Im Kanzleramt sind sie gerade sehr wachsam. Die Alarmstimmung rührt nicht vom Coronavirus her, da haben die Experten um Kanzlerin Angela Merkel im Moment alles soweit im Griff. Sorgen macht den Beamten im klobigen Bau an der Spree vielmehr die Entwicklung in der Türkei. Wenn in den nächsten Stunden nicht ein diplomatischer Coup gelingt, ist eine Flüchtlingsbewegung ähnlich der des Jahres 2015 zu erwarten.
In der Türkei sind nach Angaben der Regierung in Ankara 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge untergebracht. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat angekündigt, die „Tore“ stünden für Flüchtlinge Richtung Europa ab sofort offen. Obwohl die deutsche Regierung über diesen Schritt eigenen Angaben zufolge offiziell noch nicht in Kenntnis gesetzt wurde, scheinen die Ankündigungen zu stimmen. An den Grenzübergängen zu Griechenland drängten sich am Wochenende viele hundert Menschen. Und jeder Flüchtling, der Europa und am Ende Deutschland erreicht, setzt die Bundesregierung und ihre Chefin mehr unter Druck.
Erdogan missbraucht die Flüchtlinge als Druckmittel
Kanzlerin Merkel muss zusehen, wie ihr mühevoll ausgehandelter Flüchtlingspakt zwischen Europäischer Union und der Türkei gerade zerbröselt. Viel Geld, insgesamt sechs Milliarden Euro sind vereinbart, hat Ankara als Gegenleistung für die Aufnahme von Flüchtlingen genommen. Die Menschen will das Land nicht mehr.
Schlimmer noch: Die Regierung Erdogan setzt die Flüchtlinge als Druckmittel ein, um ihre militärischen Interessen in Syrien durchzusetzen. Landläufig würde man hier von Erpressung sprechen. Man mag sich außerdem gar nicht vorstellen, was Erdogans Ankündigung in den Menschen auslöst, die in türkischen Flüchtlingslagern leben. Sie, die vieles verloren haben, schöpfen jetzt Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa, nehmen erneut Strapazen auf sich und werden womöglich bitter enttäuscht. Ein widerliches Spiel mit menschlichen Schicksalen ist das.
Scheckbuch-Diplomatie funktioniert nicht mehr
Die Bundesregierung muss eingreifen, hat aber kaum Mittel zur Verfügung. Den Krieg in Syrien kann Berlin nur von der Seitenlinie aus betrachten, eingreifen kann es nicht. Geld scheint nicht die Lösung zu sein. Viele Milliarden hat Deutschland bereits gezahlt. An die Türkei, aber auch an andere Aufnahmeländer, an das UNHCR und an viele weitere. Gebracht hat diese Scheckbuch-Diplomatie wenig bis gar nichts.
Bei der Unterzeichnung des Flüchtlingspaktes im März 2016 hatte Merkel erklärt, die EU habe mit dem Abkommen gezeigt, dass sie zu gemeinsamen europäischen Antworten fähig sei. Europa werde diese Bewährungsprobe bestehen, das Abkommen bedeute ein „Momentum der Unumkehrbarkeit“. Vier Jahre später erweist sich ihre Einschätzung als falsch.
Deutschland übernimmt Mitte des Jahres die EU-Ratspräsidentschaft. Aus dieser mächtigen Position heraus könnte Merkel einiges reißen, aber bis dahin sind es noch vier Monate. Für vernünftige Antworten auf die Flüchtlingsfrage dürfte es da zu spät sein.
Die CDU ist ausgerechnet jetzt gelähmt
Die Entwicklung kommt auch für Merkels Partei zur Unzeit. Die CDU ist gerade in ihrer Findungsphase und sucht einen neuen Vorsitzenden. Eine Debatte über die Flüchtlingspolitik könnte mit ihrer Wucht, wie wir sie aus vergangenen Jahren kennen, jede sachliche Auseinandersetzung verzerren. Womöglich wird sogar Merkel selbst in den Sog gezogen – es gibt nicht wenige in der Partei, die sich ihren vorzeitigen Abgang wünschen.
Eine politische Lösung muss her, und zwar dringend. Wenn nicht, droht Deutschland eine Auseinandersetzung, gegen die der Coronavirus-Alarm in den Hintergrund rücken könnte.
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