Nicht Manfred Weber, nicht Frans Timmermans, schon gar nicht Margrethe Vestager - plötzlich soll die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen EU-Kommissionschefin werden. Darauf haben sich die europäischen Regierungschefs um Angela Merkel und Emmanuel Macron hinter verschlossenen Türen verständigt. Wird das EU-Parlament die Nominierung der CDU-Politikerin von der Leyen mittragen? Die Presse reagiert bisher kritisch - die Reaktionen und Stimmen im Überblick:
Von der Leyen als EU-Kommissionschefin? "Wie schrecklich kurzsichtig"
"Unter Führung der Kanzlerin haben die Staats- und Regierungschefs der EU kurzerhand die Europa-Wahlen annulliert: Egal, wer als Kandidat angetreten war. Egal, wer gewonnen hat. Die „Chefs“ drehen ihr Ding. Das war anders versprochen. Das geht so nicht. Wenn das Europa-Parlament einen Funken Stolz hat, sagt es Nein. Aus Prinzip. Aus Selbstachtung. Merkels Macht-Erfolg würde dann zu einer ziemlich beispiellosen Krise der Europäischen Union. Wie schrecklich kurzsichtig." Bild
Der EU-Personalpoker in Zitaten
"Sie können sich vorstellen, dass das ein schwieriger Tag für mich ist."
Manfred Weber, EVP-Spitzenkandidat
"Der Spitzenkandidatenprozess hat einen Knacks."
Jean-Claude Juncker, Kommissionspräsident
"Ursula von der Leyen ist als Chefin der EU-Kommission für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht akzeptabel."
"Wir können das Spitzenkandidaten-Prinzip nicht einfach über Bord werfen, weil das Ergebnis der Wahl einigen Regierungschefs nicht in den Kram passt."
Udo Bullmann, Vorsitzender der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament
"Ein Sieg von Orbán & Co. Sie haben Timmermans verhindert, der für Rechtsstaatlichkeit steht. Die Regierungschefs dealen etwas aus, der Spitzenkandidatenprozess ist tot."
"Von der Leyen ist bei uns die schwächste Ministerin. Das reicht offenbar, um Kommissionschefin zu werden."
Martin Schulz, ehemaliger Präsident des EU-Parlaments
"Die Europa-SPD wird diesem Vorschlag auf keinen Fall zustimmen."
Chef der SPD-Abgeordneten im Europaparlament, Jens Geier
"Ich freue mich insbesondere, dass erstmals der Vorschlag eines Kommissionspräsidenten eine Frau ist, das ist ein historischer Moment."
Brigitte Bierlein, Bundeskanzlerin Österreich
"Besonders freue ich mich, dass wir erstmals zwei Frauen in sehr wichtigen Rollen haben: Erstmals eine Präsidentin der Kommission und erstmals eine Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Ich denke das sendet ein weiteres Mal eine Botschaft aus, dass Europa führend ist in der Gleichberechtigung der Geschlechter."
Leo Varadkar, Premierminister Irland
"Das ist eine Zumutung."
Reinhard Bütikofer, Co-Vorsitzender Europäische Grüne Partei
"Friedenspolitisch ist dies jedenfalls ein böses Omen für die kommenden Jahre."
Özlem Alev Demirel, friedenspolitische Sprecherin der Delegation Die Linke im EP
"Ich bin auch ganz sicher, dass die aktuelle Entwicklung in Europa wieder verfilmt werden könnte unter dem Motto "Denn sie wissen nicht, was sie tun"."
CSU-Chef Markus Söder
"Das trägt dem Sieg der EVP bei den Europawahlen Ende Mai Rechnung."
"Für die parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene ist das ein Rückschritt"
Katja Leikert, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
"Wir haben als Koalitionspartner von der Leyen bisher immer geschont. Das können wir so nicht mehr aufrecht erhalten."
Karl Lauterbach, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im Kölner Stadt-Anzeiger
"Dieser Plan ist eine ziemliche Dreistigkeit und wird hoffentlich vom EU-Parlament gestoppt."
SPD-Vize Ralf Stegner zur Funke Mediengruppe
"Hoffentlich nicht so bald wieder."
Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ein freundliches "auf Wiedersehen" von Journalisten auf einer Pressekonferenz
"Es hätte schlimmer kommen können für Merkel. Mit der spektakulären Wende zu von der Leyen endet für sie ein Gipfel, bei dem sie lange Zeit knapp vor einer herben Niederlage stand." Spiegel Online
"Die größte Verliererin ist Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zwar soll ihre Parteifreundin Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin werden, die erste Deutsche auf diesem Posten in 52 Jahren. Aber es war nicht ihre Wahl. Von der Leyen ist für Merkel eine bittere Pille, ein "Geschenkchen" von Macron, der ihren Namen ins Spiel brachte. Von der Leyen stößt bei Merkels Koalitionspartner SPD auf heftigen Widerstand, weshalb sie sich am Dienstag bei der Abstimmung der EU-Regierungschefs als einzige enthalten musste." de Volkskrant, Niederlande
"Keiner der Spitzenkandidaten, die von ihren Parteien als europäische Gallionsfiguren aufgestellt wurden, überlebte das zynische Kräftemessen, das die Verteilung der Spitzenjobs in Europa darstellt. (...) Stattdessen kam in der letzten Minute die Ersatzspielerin von Angela Merkel, Ursula von der Leyen, von der Bank. Es wirkte wie eine schlechte Imitation eines Agatha-Christie-Thrillers, in dem sich auf der letzten Seite eine bisher unbekannte böse Zwillingsschwester als Täter erweist. Deutsch, christdemokratisch, merkeltreu und weiblich waren ihre entscheidenden Trümpfe." De Standaart, Belgien
"Auf sie hatten zuvor die wenigsten getippt. In Deutschland galt bisher als ausgemacht, dass sie ihren politischen Zenit überschritten hat. Nun macht sie plötzlich den ganz großen Karrieresprung. (...) Was sie nicht alles erreicht hat: Ärztin, siebenfache Mutter, Auslanderfahrung, strahlendes Auftreten und, kaum war sie 2005 in die Bundespolitik eingetreten, der steile Aufstieg zur Familienministerin, Arbeitsministerin, Verteidigungsministerin. Alles, was von der Leyen anpackte, schien ihr im Handumdrehen zu gelingen. Warum nicht auch der Vorsitz der EU-Kommission? Wie Macron ist sie äusserst ehrgeizig, kommunikativ, weltgewandt, und dazu spricht sie auch noch fliessend Englisch und Französisch. Wären da nur nicht die durchwachsene Bilanz und mancher schwerer Patzer im Verteidigungsministerium, die ihren Glanz in Deutschland erblassen ließen." NZZ, Schweiz
Stimmen zu von der Leyen: "Hätte kompetentere Kandidaten gegeben"
"Völlig überraschend wurde ihr Name in den Ring geworfen, und das, obwohl es doch eine Reihe anderer, kompetenter Kandidaten gegeben hätte, die sich durch die Mühen des Wahlkampfes geackert haben. Und so hat es einen nicht besonders beglückenden Beigeschmack, wenn eine - unzweifelhaft kompetente - Kandidatin urplötzlich aus dem Hut gezaubert wird. Es fühlt sich nach Umgehung aller europäischen Wähler an, die einem Spitzenkandidaten ihre Stimme gaben, um einen EU-Kommissionspräsidenten auf demokratischem Weg zu küren. Es fühlt sich an, als hätten die EU-Staats- und Regierungschefs das Europäische Parlament ins Leere laufen lassen. Und es fühlt sich an, als ob die EU noch einen Schub Demokratisierung mehr vertragen könnte." Kurier, Österreich
"Diese Kandidatur ist ein Tabubruch. Das liegt nicht daran, dass Ursula von der Leyen nach 58 Jahren erst die zweite deutsche Politikerin auf dem Chefsessel der Europäischen Kommission werden könnte. Und noch weniger an der Perspektive, die erste Frau an der Spitze der wichtigsten EU-Behörde zu sein. Nein, der offene Affront dieser Kandidatur liegt in der Entscheidung der Staats- und Regierungschefs, sich wissentlich gegen den Beschluss des EU- Parlamentes zu stellen, nur einen Spitzenkandidaten zu akzeptieren." Augsburger Allgemeine
"Dass das 2014 mit der Wahl Junckers – statt des SPD-Mitbewerbers Martin Schulz – erfolgreich erprobte Spitzenkandidatenmodell jetzt keine Fortsetzung finden soll, stößt auch bei der Linken-Fraktion auf Unverständnis. Darüber kann auch nicht die Nachricht aus Brüssel hinwegtäuschen, dass, wie Ratspräsident Donald Tusk am Abend berichtet, die designierte Kommissionschefin von der Leyen die Absicht habe, den sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans und die ebenfalls bis zuletzt Anspruch auf das Spitzenamt erhebende dänische liberale Wettbewerbskommissar Margrethe Vestager zu „höchstrangigen“ Vizepräsidenten der Kommission zu ernennen." FAZ (lare, mit dpa)
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