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EU-Gipfel: EU-Sondergipfel: Am Ende gingen der Kanzlerin sogar die Blazer aus

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EU-Sondergipfel: Am Ende gingen der Kanzlerin sogar die Blazer aus

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    Die ersten Sakkos sind abgelegt, jetzt wird verhandelt: Szene vom EU-Gipfel, unter anderem mit Kanzlerin Angela Merkel (hinten rechts).
    Die ersten Sakkos sind abgelegt, jetzt wird verhandelt: Szene vom EU-Gipfel, unter anderem mit Kanzlerin Angela Merkel (hinten rechts). Foto: Francisco Seco/AP, dpa

    Xavier Bettel grinste, als er die Frage des Journalisten hörte. Wie viele Hemden er dabei habe, wollte der Kollege vom luxemburgischen Ministerpräsidenten wissen. „Ich habe genügend eingepackt“, antwortete der. Das war am Freitagmorgen, als der mit fast fünf Tagen zweitlängste EU-Gipfel der Geschichte begann. Nur 25 Minuten fehlten am Ende, um den Rekord-Gipfel von Nizza im Jahr 2000 zu übertreffen. Bettel hatte Glück: Wegen eines beruflichen Termins reiste er am Sonntagabend kurz nach Luxemburg zurück – und konnte frische Oberbekleidung einpacken. In Brüssel gibt es das geflügelte Wort vom „Drei-Hemden-Gipfel“. Soll heißen: Es kann dauern.

    Und es hat gedauert. 90 Stunden. Am Ende beschloss die Europäische Union das größte Finanzprogramm ihrer Geschichte: 750 Milliarden Euro gegen die Schäden, die durch den wirtschaftlichen Stillstand in der Coronavirus-Krise entstanden waren, und weitere 1074 Milliarden Euro als Ausgabenrahmen für die sieben Jahre ab dem Jahr 2021. „Was zählt“, sagte eine sichtlich übermüdete Bundeskanzlerin Angela Merkel, „ist das Ergebnis.“ Nach 90 Stunden.

    Hinter den Kulissen geht es menschlich zu

    Es ist ja so, dass es hinter den Kulissen der Mächtigen auf fast anrührende Weise menschlich zugeht. Bei diesem wie allen früheren europäischen Spitzentreffen. Dieses Mal litten offenbar alle. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron stöhnte zwischendurch, dass er, der sonst stets wie aus einem Herrenmagazin entsprungen daherkommt, seit Tagen den gleichen Anzug tragen muss. Kanzlerin Merkel, so notierte ARD-Kollegin Gudrun Engel, schlüpfte am Abschlusstag wieder in den gleichen Blazer, den sie auch am ersten Tag getragen hatte. Nachschub war nicht geplant und wohl auch nicht möglich.

    Und dann: fast fünf Tage zum Teil erbittertes Ringen. Zwischendurch flogen heftige Worte durch den Raum. „Europa wird erpresst“, soll beispielsweise der italienische Regierungschef Giuseppe Conte seinem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte entgegengeschleudert haben, als der die Zuwendungen immer weiter nach unten korrigieren wollte. Auch gegenseitige Beschimpfungen habe es gegeben, berichteten Diplomaten.

    Einigung beim EU-Sondergipfel: "Historischer Tag für Europa"

    Doch zum vollständigen Bild gehört auch dieses: Als am Dienstagmorgen um 5.52 Uhr endlich ein Durchbruch geschafft war, verwandelte sich die noble Runde in eine muntere Schulklasse. Man versammelte sich im Innenraum des Gipfelsaals, klopfte sich gegenseitig – unter strikter Wahrung der Abstandsregeln und mit Maske – auf die Schultern, witzelte und lachte, um dann mit dem gebotenen Ernst und mit Würde sowie erkennbaren Augenringen einen „historischen Tag für Europa“ zu verkünden.

    Manch einer verhaspelte sich aus Schlafmangel bei der Wortwahl. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen musste einige Sätze mehrfach starten, ehe sie verständlich waren. Wer wollte es ihnen verdenken – nach dieser zweiten durchwachten und zerstrittenen Nacht?

    Was der Bürger auch nie sieht, ist das Protokoll dieser Treffen, das im Hintergrund abläuft. So gilt etwa das Catering als organisatorisches Großereignis. Eineinhalb Monate vorher geht es los. Dann wird mit einer externen Firma das Menü besprochen. Dabei gilt es, viele Kriterien zu beachten. Die Lebensmittel müssen zunächst möglichst regional, saisonal und nachhaltig sein. Ethische Erwägungen spielen bei der Auswahl eine große Rolle. Nicht serviert werden etwa bedrohte Fischarten, Gänsestopfleber oder extrem teures Essen wie Kaviar.

    Das Essen war perfekt auf die Bedürfnisse der Regierungschefs abgestimmt

    Verzichtet wird auch auf Lebensmittel, die nicht jedem schmecken – Rosenkohl zum Beispiel. Strenge Gesundheitsvorschriften verbieten rohes Fleisch oder rohen Fisch. Zudem gibt es eine Liste mit den speziellen Essgewohnheiten und Allergien der Teilnehmer.

    Praktikabel muss es außerdem sein. Die Regierungschefs haben während des Dinners nicht nur ihre Teller vor sich, sondern müssen auch mit Mikrofonen, Papier und Smartphones hantieren. Da sollten die Gerichte einfach zu essen sein, sagte einmal der jahrelange Chefkoordinator des Europäischen Rates, Jaroslaw Zaczykiewicz. Klare Suppe geht noch. Spaghetti eher nicht. „Es gab mal ein sehr schönes Dessert“, erzählte der Pole, „ein Eis, das sich aber extrem schwer mit dem Besteck zerschneiden ließ.“ Das kam dann nicht infrage. Auch muss das Essen nach Verzögerungen noch genießbar sein. Was etwa schnell zerkocht, fliegt ebenfalls raus.

    Ist endlich ein Menü gefunden, das allen Erfordernissen gerecht wird, gibt es ein Testessen mit vier Mitarbeitern. Für den Fall eines spontanen Gipfeltreffens haben die Verantwortlichen zur Sicherheit immer fertig getestete Menüs in der Hinterhand. Die Crew muss in der Lage sein, in maximal drei Tagen ein Dinner auf die Beine zu stellen.

    Angela Merkel gilt als pünktlich - andere ließen gerne auf sich warten

    Ähnlich herausfordernd ist schon die Anfahrt der Delegationen. Eine knappe Stunde hat das Protokoll für die Wagenkolonnen eingeplant, die häufig direkt vom Flughafen Brüssel-Zaventem in die Innenstadt fahren. Die Reihenfolge ist eigentlich nicht festgelegt, allerdings nicht selten auch das Ergebnis von Eitelkeiten. Der frühere französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy kam gerne als einer der Letzten, um dann den „Einzug“ auszukosten. Angela Merkel gilt als „pünktlich“, heißt es beim Protokoll des Europäischen Rates. Silvio Berlusconi tauchte dagegen stets zu spät auf.

    Am roten Teppich wartet der Protokollchef, der jeden Gast in Empfang nimmt. Fast zwei Jahrzehnte lang war dies der Österreicher Hans Brunmayr, der über seine Erlebnisse ein Buch geschrieben hat. Manche Staatschefs seien sehr freundlich, andere dagegen marschierten einfach durch, erzählte er. Und er erinnerte sich, dass er vor vielen Jahren den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zum Sitzungssaal noch im alten Ratsgebäude führen musste und sich in dem verwinkelten Gebäude verlief. Fast zehn Minuten dauerte es, ehe der hohe Gast schließlich vor der richtigen Türe stand.

    EU-Ratspräsident Charles Michel nutzte das "Beichtstuhlverfahren"

    Gipfelberatungen sind kein Vergnügen, vor allem nicht, wenn man warten muss. Der eigentliche Chef im Ring ist der Ratspräsident der EU, Charles Michel. Als es an diesem Wochenende mehrfach nicht weiterging, lud er erst einzelne Gesprächspartner, dann aber auch mehrere gleichzeitig zum Gespräch, das im Brüsseler Jargon „Beichtstuhlverfahren“ genannt wird.

    Dieses Mal waren die Eingeladenen eher zu beneiden, denn im neuen Ratsgebäude gibt es einen wunderschönen Balkon mit Blick über Brüssel. Dort saß man hemdsärmelig zusammen, was einen Kollegen zu der Bemerkung veranlasste: „Warum holt Charles nicht den Grill raus und legt ein paar Würstchen auf?“ Dabei geht’s in solchen Runden gar nicht lustig zu, weil der Ratspräsident nach Kompromisslinien sucht. Was zuweilen bei den Nicht-Beteiligten für endlose Wartezeiten sorgt.

    Wenns mal wieder länger dauert: Am Place Jourdan gibt es Pommes

    Vom Wochenende ist eine Unmutsäußerung des bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow überliefert, der verstimmt grummelte: „Wieso muss ich hier so lange warten?“ Andere sind da entspannter. Der frühere dänische Premier Anders Fogh Rasmussen erkundigte sich bei einem Gipfeltreffen mal, ob er gerade gebraucht werde. Als das Ratssekretariat, das die Termine koordinierte, dies verneinte, holte er seine Laufschuhe raus und ging im Königlichen Park joggen. Rasmussen war Marathonläufer.

    Dieses Mal schlenderten am Samstag die belgische Regierungschefin Sophie Wilmés und der Luxemburger Xavier Bettel über die Brüsseler Straßen, um am Place Jourdan in der legendären Frittenbude Maison Antoine eine Tüte Pommes zu kaufen. Sie wählte die andalusische Sauce, Bettel entschied sich für die deutlich schärfere Samurai-Sauce. Auch Bundeskanzlerin Merkel war schon mal bei einem Gipfel hierher geflüchtet. Die Beratungen hatten sich in die Länge gezogen und die Küche des Rates servierte gerade nichts. Der Hunger quälte. Und wo, wenn nicht in Belgien, muss man Pommes essen?

    EU-Experten im Hintergrund arbeiteten nachts die Vorlagen aus

    Dann sind da noch die Namenlosen, die niemand zu Gesicht bekommt. „Sherpas“ heißen die Berater der nationalen Delegationen, was niemand mit „Kofferträgern“ verwechseln sollte. Es sind die EU-Experten der Regierungen und des Rates. Sie sitzen in den Räumen der nationalen Abordnungen, häufig unterstützt von den EU-Botschaftern der Mitgliedstaaten. Sie hinterfragen, sie formulieren, sie erarbeiten häufig in der Nacht jene Vorlagen, auf deren Grundlage die Staats- und Regierungschefs in der nächsten Tagungsrunde diskutieren und argumentieren.

    Bei diesem Gipfel mussten sie besonders oft ran. Gleich zwei Mal beauftragte Ratspräsident Michel seine Truppe, einen neuen Kompromissvorschlag auszuarbeiten – üblicherweise zunächst in Englisch. Das klingt nach einer Kleinigkeit. Das Gegenteil ist der Fall. 66 Seiten umfasste das Papier am Ende, das der Belgier am Montagabend den Staatenlenkern präsentierte. Ein Werk voller Zahlen und Prozentangaben, das sofort an die nationalen Experten weitergereicht wurde, um die Auswirkungen für das eigene Land auszuarbeiten. Es vergingen Stunden, ehe daraus ein Kompromiss wurde. Die Sonne über Brüssel, das an diesem Tag seinen Nationalfeiertag beging, stand schon am Himmel. An einen Heimflug war trotzdem nicht zu denken.

    Eine übermüdete Kanzlerin und Journalisten in Schlafanzügen

    Denn auch als der Durchbruch geschafft war, musste dieser noch vor den Kameras präsentiert werden. Rund 1000 Journalisten verfolgen solche europäischen Spitzentreffen üblicherweise vom Pressezentrum aus – gleich neben dem Ratsgebäude. Doch das Coronavirus hat auch diese Routine verändert. Lediglich ein paar Fernsehleute waren zugelassen, die übrigen Korrespondenten standen vor den Absperrgittern am Place Schuman oder saßen in ihren Büros.

    Als die sichtlich übermüdete Kanzlerin per Video schließlich das Treffen lobte und Viktor Orbán patriotische Töne anschlug, weil „wir unseren nationalen Stolz verteidigt haben“, war der Saal leer. Die Berichterstatter saßen zu dieser frühen Morgenstunde in Schlafanzügen vor ihren Computern und übermittelten ihre Fragen per Konferenz-Software. Und jeder war am Ende froh, dass dieser vielleicht wichtigste europäische Gipfel nach fast 90 Stunden zu Ende war – erfolgreich, wie alle einstimmig betonten.

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