Angela Merkel hätte es sich bei diesem EU-Gipfel einfach machen können. Nach der mutmaßlich letzten Regierungserklärung der Bundeskanzlerin im deutschen Parlament wäre ihr ein ebenfalls letztes ruhiges Treffen mit den europäischen Amtskollegen zu gönnen gewesen. Es kam anders – und dafür hatte Merkel selbst gesorgt.
Schon am Mittwochabend ließ die Bundeskanzlerin neue Vorschläge für den Umgang mit Russland in Umlauf bringen, ein Denkstück, dass sie mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron abgestimmt hatte. Der EU-Gipfel solle Moskau zum einen noch schärfere Wirtschaftssanktionen androhen, zugleich aber Präsident Wladimir Putin Gespräche anbieten. Sogar von einem EU-Russland-Gipfeltreffen war die Rede. Das gab es zuletzt 2014.
Annalena Baerbock lobte Merkels Einsatz für Europa
"Meines Erachtens müssen wir als Europäische Union auch den direkten Kontakt mit Russland und dem russischen Präsidenten suchen", sagte Merkel am Morgen im Bundestag. Es reiche nämlich nicht, wenn der amerikanische Präsident Joe Biden mit dem Kremlchef spreche. Die EU müsse auch Gesprächsformate schaffen. Anders werde man die Konflikte nicht lösen, sagte sie bei der Bundestagsdebatte, bei der erstmals auch die drei Kanzlerkandidaten sprachen: Die Union feierte CDU-Chef Armin Laschet mit langem Applaus, die SPD Olaf Scholz und die Grünen Annalena Baerbock. Alle drei lobten staatstragend Merkels Einsatz für Europa.
In Brüssel ging Merkels Initiative jedoch zunächst nach hinten los. "Da sehe ich Schwierigkeiten", sagte der lettische Präsident Krisjanis Farins im Einklang mit seinen beiden anderen baltischen Amtskollegen. "Der Kreml versteht Machtpolitik." Der polnische Premier Mateusz Morawiecki sei, so berichteten Beobachter, "sehr verärgert" über den Last-Minute-Vorstoß der Kanzlerin gewesen.
Die Union soll entschieden gegen Russland vorgehen
Tatsächlich teilen viele EU-Staatenlenker die Befürchtung, dass ein derart aufwertendes Gesprächsangebot an Putin, noch dazu ohne vorherige Gegenleistungen, in Moskau als zu weich empfunden werde und die angedrohten Strafen überdecken werde. Im Schlussdokument findet sich dann eine Formulierung, die der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell angestoßen hatte und die sich so zusammenfassen lässt: Erstens solle die Gemeinschaft dagegen halten, wenn Russland internationales Recht verletzt. Zweitens müsse sich die Union gegen Destabilisierungsversuche durch Cyberattacken schützen und drittens in ausgewählten Bereichen wie der Pandemie oder dem Klimaschutz mit Moskau zusammenarbeiten. Aus dem Kreml hieß es, man begrüße diese Initiative. Manchen in Brüssel war das zu viel Tauwetter. Aber was tun? Zuckerbrot oder Peitsche? Die EU sitzt zwischen allen Stühlen.
Das blieb so etwas wie der rote Faden dieses Treffens. Schon zu Beginn der Zusammenkunft hatte sich abgezeichnet, dass der Flüchtlingsdeal mit der Türkei neu aufgelegt werden soll. Mit anderen Worten: Ankara soll, wie schon 2018 vereinbart, seine Grenzen dichtmachen und Hilfesuchende von den griechischen Inseln zurücknehmen. Als Dank winken mehrere Milliarden an Unterstützung samt weitergehender Prüfungen für eine visafreie Einreise und gegebenenfalls auch eine Fortführung der Beitrittsverhandlungen.
Viktor Orbán zeigt keine Kompromissbereitschaft
Der Athener Premier Kyriakos Mitsotakis zeigte sich mit dem Entwurf des Schlussdokumentes zufrieden: Darin wird Ankara die Hand gereicht, aber gleichzeitig mit einem sofortigen Rückzug von der neuen Zusammenarbeit gedroht, sollte die Türkei die bisherige Politik gewaltsamer Übergriffe gegen Oppositionelle fortführen. Ein gangbarer Weg? Man müsse darauf achten, so der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, dass man "nicht mit unterschiedlichen Maßstäben misst". Schließlich könne die Union der Türkei nicht Menschenrechtsverletzungen nachsehen, wenn man gleichzeitig gegen Belarus scharfe Strafen wegen der Gewalt gegen das eigene Volk verhänge.
Die EU steckt wieder in der Klemme zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Es blieb ein Zwiespalt, auch als am Abend weiterer Zündstoff auf dem Tisch lag. 16 der 27 Staats- und Regierungschefs hatten in einem Schreiben an EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionschefin Ursula von der Leyen gegen das sogenannte Homosexuellen-Gesetz der ungarischen Regierung Stellung bezogen. Premier Viktor Orbán aber zeigte zumindest im Vorfeld keinerlei Kompromissbereitschaft. Er habe die Rechte der Homosexuellen im Kommunismus verteidigt, zeigte er sich über die Angriffe verärgert. Er wolle doch "nur die Kinder schützen und das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, festschreiben". Von einem Verstoß gegen Grundwerte der EU wollte er nichts wissen. (mit bju, pom)