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Interview: Gesundheitskommissarin Kyriakides: "Wir haben nicht nur Fehler gemacht"

Interview

Gesundheitskommissarin Kyriakides: "Wir haben nicht nur Fehler gemacht"

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    Stella Kyriakides, EU-Gesundheitskommissarin, während einer Pressekonferenz.
    Stella Kyriakides, EU-Gesundheitskommissarin, während einer Pressekonferenz. Foto: Yves Herman, dpa (Archiv)

    Stella Kyriakides: Bitte erlauben Sie mir, bevor Sie die erste Frage stellen, mein Mitgefühl für die Leser Ihrer Zeitung auszudrücken, die mit dem Coronavirus infiziert waren, deren Angehörige erkrankten, die im Krankenhaus gegen das Virus kämpfen oder die gar einen lieben Mitmenschen verloren haben. Und ich möchte auch meinen tiefen Dank denen unter Ihren Lesern ausdrücken, die in Klinken, Pflege- oder Altenheimen für andere da sind.

    Vielen Dank. Was können Sie denn allen anderen sagen? Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Fehler und Versäumnisse bei der Bestellung und Lieferung von Impfstoffen eingestanden. Was wird die EU jetzt tun, um besser zu werden?

    Kyriakides: Der aktuelle Status ist so. Bis zum Ende des ersten Quartals werden insgesamt 100 Millionen Dosen ausgeliefert haben. Für das zweite Quartal sehen die Zahlen viel besser aus und wir erwarten, dass von den drei derzeit zugelassenen Impfstoffen mindestens 300 Millionen Dosen ausgeliefert werden, wenn die Verträge eingehalten werden. Diese Zahl könnte sich sogar noch erhöhen, wenn der Impfstoff von Johnson&Johnson hinzukommt. Und für das dritte Quartal sollten wir weitere 300 Millionen von BioNTech-Pfizer und Moderna haben, was bedeutet, dass wir, auch wenn wir jetzt noch nicht wissen, wie die Situation bei AstraZeneca sein wird, bis Ende September mindestens 700 Millionen Impfstoffe haben sollten, was mehr als genug für 70 Prozent der EU-Bevölkerung ist. Wir haben trotz aller Hindernisse keine Zeit vergeudet.

    EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides im Interview: "Ich bin nicht zufrieden"

    Trotzdem werden Sie ja nicht zufrieden sein…

    Kyriakides: Das bin ich auch nicht. Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass wir vergessen, vor welcher Herausforderung wir stehen. Wir stehen einer Pandemie entgegen, wie wir sie noch nie zu bewältigen hatten. Vor zehn Monaten hat niemand geglaubt, dass so schnell wirksame und sichere Impfstoffe entwickelt würden und für den Bürger zur Verfügung stehen. Es ist also falsch zu behaupten, dass wir nur Fehler gemacht hätten. Ohne die EU hätten die Bürger in allen 27 Mitgliedstaaten unabhängig von der Größe und der Wirtschaftskraft wahrscheinlich keinen Zugang zu Vakzinen bekomme. Die europäische Impfstrategie ist ein Erfolg.

    Dennoch gab es Probleme. Beispielsweise wurde die Dauer des Zulassungsverfahrens kritisiert. Was wollen Sie da besser machen?

    Kyriakides: Das ist ein gutes Beispiel. Wir haben uns zusammen mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur den Ablauf angesehen. Und wir haben nun entschieden, dass ein Impfstoff, der vom Hersteller auf der Basis des bisherigen Vakzins zur Bekämpfung neuer Mutationen nachgebessert wurde, nicht mehr den ganzen Zulassungsprozess durchlaufen muss. Es wird also schneller gehen, geeignete Impfstoffe verfügbar zu haben, ohne bei der Sicherheit Abstriche zu machen.

    Sie könnten sich wieder verrechnen. Johnson& Johnson will den Impfstoff, der in Europa produziert wird, in den USA abfüllen lassen. Glauben Sie, dass Washington die Ausfuhr des fertigen Vakzins nach Europa erlaubt?

    Kyriakides: Bisher hat Johnson&Johnson den Antrag auf Zulassung bei der EMA noch nicht eingereicht. Wenn das Unternehmen dies innerhalb des Februar tut, erwarten wir eine baldige Bewertung der EMA. Wir werden uns das natürlich ansehen. Aber im Moment warten wir auf die Einreichung für die Zulassung und das wird natürlich alles berücksichtigt werden.

    Es werden nicht nur Impfstoffe, sondern auch Medikamente für Erkrankte gebraucht.

    Kyriakides: Parallel zum Impfstoff-Management treiben wir mit den Herstellern die Entwicklung von geeigneten Arzneimitteln voran. Ich kann Ihnen keinen genauen Zeitpunkt sagen, wann genügend zur Verfügung stehen. Aber das Thema hat eine hohe Priorität für uns.

    Stella Kyriakides ist gegen Grenzkontrollen in der EU

    An diesem Wochenende sind zwischen Deutschland und dem österreichischen Bundesland Tirol strenge Grenzkontrollen eingeführt worden. Stehen wir vor einer neuen Welle von Grenzschließungen?

    Kyriakides: Die Furcht vor den Mutationen des Coronavirus ist verständlich. Aber trotzdem gilt die Wahrheit, dass sich das Virus nicht von geschlossenen Grenzen aufhalten lässt. Gegen die Mutationen helfen nur konsequentes Impfen sowie die Einhaltung der Hygiene-Regeln. Ich halte es für falsch, dass wir wieder zu einem Europa mit geschlossenen Grenzen wie im März 2020 zurückkehren.

    Wird in der EU gezielt genug nach den neuen Mutanten geforscht?

    Kyriakides: Nein. Deutschland und einige andere bemühen sich inzwischen, die Sequenzierung voranzutreiben und die EU wird sie dabei unterstützen. Aber da brauchen wir noch viel mehr Anstrengungen von allen Mitgliedstaaten, um die Ausbreitung der Mutanten zu kennen und bekämpfen zu können. Tun wir es nicht, stehen wir diesem Problem blind gegenüber.

    Wann werden wir wissen, ob Geimpfte das Virus weitergeben?

    Kyriakides: Das ist eine der wichtigsten Fragen, die die Wissenschaftler schnellstmöglich beantworten müssen. Die Europäische Kommission und die Europäische Arzneimittel-Agentur warten wirklich jeden Tag darauf, dass uns die Forscher darauf eine verlässliche Antwort geben können.

    Stimmt es, dass die EU-Kommission so etwas wie einen Europäischen Impfpass entwickelt, damit Geimpfte schneller ihre Rechte zurückbekommen, reisen und sich freier bewegen können?

    Kyriakides: Es geht nicht um einen Impfpass, sondern um ein Impfzertifikat. Der Unterschied besteht darin, dass das Papier, an das wir denken, alle Daten rund um die Impfung beinhaltet. Das erlaubt nicht nur eine differenzierte Nachbetreuung, egal wo diese dann später stattfindet. Es gibt uns auch einen Einblick in die Entwicklung des Virus sowie möglicher Nebenwirkungen, die sich erst mit Verzögerung einstellen. Es geht also um ein medizinisches Zertifikat. Ein Impfpass müsste dagegen global entwickelt werden. Dazu gibt es Gespräche mit der Weltgesundheitsorganisation. Wenn das Zertifikat ausgeweitet werden soll, müssten dies die EU-Staats- und Regierungschefs entscheiden.

    Es gibt Gerüchte über einen Schwarzmarkt für Impfstoffe. Beunruhigt Sie das?

    Kyriakides: Die Mitgliedstaaten tauschen mit der EU-Kommission alle Erkenntnisse aus und würden, falls sich das bewahrheitet, dagegen vorgehen. Wichtig ist, dass die Gefahr von Fake-Produkten ernstgenommen wird. Ich kann deshalb nur an alle Mediziner und Bürger appellieren, gerade bei neuen Medikamenten und Impfstoffen ausschließlich die Produkte zu nutzen, die über die offiziellen Kanäle zu ihnen kommen. Die Bürger sollten sich vor Fake-News ebenso hüten wie vor Fake-Impfstoffen, die sie in trügerischer Sicherheit wiegen.

    Wo werden wir heute in einem Jahr stehen? Ist die Pandemie dann überwunden?

    Kyriakides: Solche Prognosen sind nicht möglich. Vor einem Jahr hat niemand geahnt, wo wir jetzt sind. Ich will dazu nur eines sagen: Wir arbeiten wirklich an sieben Tagen 24 Stunden daran, die Lage in den Griff zu bekommen und die Menschen mit ausreichendem Impfstoff und Medikamenten zu versorgen.

    Zur Person: Stella Kyriakides (64) stammt aus Nikosia (Zypern) und gehört der Europäischen Kommission seit Dezember 2019 an. Die Christdemokratin ist innerhalb den Von-der-Leyen-Teams für Gesundheit und Verbraucherschutz zuständig. Neben der Bekämpfung des Coronavirus ist die Entwicklung von Strategien gegen den Krebs eines ihrer Hautanliegen für die erste Amtszeit in Brüssel.

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