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EU-Beitritt: Kroatien hofft auf die EU - und zweifelt gleichzeitig

EU-Beitritt

Kroatien hofft auf die EU - und zweifelt gleichzeitig

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    Die EU-Kommission gibt grünes Licht für den kroatischen EU-Beitritt.
    Die EU-Kommission gibt grünes Licht für den kroatischen EU-Beitritt. Foto: Klaus-Dietmar Gabbert (dpa)

    Josip will bleiben. Tomislav will gehen.  „Ich liebe Kroatien, es ist mein Land“, sagt der eine.  „Ich liebe mein Land genauso, aber es ist mir so vieles schuldig geblieben“, meint der andere. Die beiden Brüder, 24 und 22 Jahre alt, studieren Medizin in Zagreb. Chirurgen wollen sie werden, beide.  „Wenn wir erst zu Europa gehören, werden wir es schaffen“, ist Josip überzeugt.  „Hier läuft so viel falsch, ich habe die Hoffnung verloren“, meint

    Am 1. Juli, wenn Kroatien als 28. Land in die EU aufgenommen wird, wollen sie feiern. Alle beide.  „Es ist ein großes Datum“, darin sind sie sich einig.  „Wie wir denken viele“, sagen sie. „Alle hoffen, dass es besser wird“, ergänzt der ältere Josip.  „Aber jeder versteht darunter etwas Eigenes.“

    Von freudiger Erwartung kaum etwas zu spüren

    Euphorie sieht anders aus. Vor neun Jahren, als die Gemeinschaft sich mit einem Schlag um zehn Staaten weit nach Osten erweiterte, waren die Plätze und Innenstädte der neuen Mitgliedstaaten schon Wochen vorher mit europäischen Fahnen geschmückt. In Zagreb sucht man in diesen Tagen vergebens nach Flaggen, Symbolen oder festlichen Vorbereitungen.

    Jahrelang hat sich der Prozess hingezogen, unter anderem, weil der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag der kroatischen Führung mangelnde Zusammenarbeit bei der Suche nach Kriegsverbrechern wie Ante Gotovina vorgeworfen hatte. Als der festgenommen worden war, kam die Sache ins Rollen.  „Kroatien ist bereit“,  hatte die EU-Kommission vor wenigen Monaten im bisher letzten Fortschrittsbericht geurteilt. Der 1. Juli 2013 stand damit fest. Doch die 793.000 Einwohner große Hauptstadt des Landes strahlt nicht gerade das Selbstbewusstsein einer westlichen Metropole aus, obwohl die frisch renovierten Gebäude aus der Zeit des Habsburger-Reiches wieder in neuem Glanz erscheinen.

    Organe der Europäischen Union

    Europäisches Parlament: Sitz in Straßburg, Legislative

    Europäischer Rat: Sitz in Brüssel, Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs

    Rat der Europäischen Union: Brüssel, Legislative, teils Exekutive, gliedert sich in einzelne Ministerräte (z.B. Rat der Außenminister) auf

    Europäische Kommission: Brüssel, Exekutive

    Gerichtshof der Europäischen Union: Sitz in Luxemburg, Judikative

    Europäischer Rechnungshof: Luxemburg, Kontrollorgan

    Europäische Zentralbank: Sitz in Frankfurt am Main

    Europäische Investitionsbank: Sitz in Luxemburg

    Touristen kommen eher zur Zwischenlandung hierher, die meisten zieht es nach Dubrovnik oder Split, dorthin, „wo wir das beste Wasser und die schönste Küste Europas anbieten können“, wie es Ante Gavranovic formuliert. Der heute 80-jährige ehemalige Wirtschaftsjournalist kennt die Stimmung im Land: „Vorfreude ist das nicht. Nach fünf Jahren Wirtschafts- und Finanzkrise sind die Menschen entmutigt.“

    Mehrheit der Kroaten erwartet bessere Perspektiven

    35 Prozent der jungen Erwachsenen und Jugendlichen haben keinen Job, Kroatien wird das Land mit der dritthöchsten Jugendarbeitslosigkeit in der Gemeinschaft werden. Die Wirtschaft leidet seit 2008 unter einem stetigen Rückgang.  „Wir haben die Auflagen aus Brüssel erfüllt. Und darauf können wir stolz sein“, sagt Gavranovic, „aber uns fehlt ein Konzept für eine ökonomische Zukunft. Dabei sind die Reichtümer Kroatiens enorm.“

    Eine der schönsten Landschaften Europas, unermessliche Möglichkeiten zur Energie-Gewinnung für EU-Partner, qualitativ hochwertige Nahrungsmittelherstellung, Spitzenprodukte für den Weltmarkt, darunter Schuhe und Helme für die Nato –  all das wird immer wieder genannt. Doch die Realität sieht häufig nicht ganz so glanzvoll aus. Ein Fünftel des Bruttoinlandsproduktes kommt zwar aus dem Tourismus,  und doch fehlen Ferienanlagen für Familien mit Kindern. Der Hafen von Rijeka wird gerade ausgebaut, obwohl die Werftindustrie seit Jahren den Bach runtergeht.

    „Unsere derzeitige Regierung hat viele ökonomische Probleme übernommen“, erklärt Visnja Samardzija. Die Professorin, die heute die Abteilung EU am Institut für Entwicklung und internationale Beziehungen in Zagreb leitet, war in den Anfangsjahren Mitglied der Delegation, die den Beitritt vorbereitete. „Eine Mehrheit der Kroaten erwartet bessere Perspektiven für die Wirtschaft und ein verlässliches Rechtssystem. Eine Minderheit fürchtet, dass gut ausgebildete Leute ins Ausland gehen könnten. Und sie haben Angst, dass Reiche die Grundstücke an den Küsten aufkaufen sowie die nationale Identität verloren geht“, sagt Samardzija.

    EU-Beitritt: 30 Prozent der Kroaten sind skeptisch

    Umfragen von Anfang Juni zeigen: Deutlich mehr als 60 Prozent der Kroaten hoffen auf die EU, gut 30 Prozent sind eher skeptisch. Die Angst in den neuen Partner-Ländern vor einer Abwanderungswelle Richtung Westen teilt in Zagreb niemand. „Kroatien hat 4,4 Millionen Einwohner. Wo sollte da eine Welle  herkommen?“, fragt Ivo Lovric. Der Journalist arbeitet bei der Nachrichtenagentur Hina, war lange in Deutschland tätig und ging vor einigen Jahren wieder in seine Heimat.  „Die Menschen hier sind sehr stolz, sie wollen nicht mit dem Geld anderer hochgepäppelt werden. Sie wollen es selber schaffen. Aber dafür brauchen sie Hilfe.“

     Wie zur Bestätigung listet der Taxifahrer auf dem Weg zum Flughafen die Sportarten auf, in denen Kroaten  zur Weltspitze gehören: Fußball, Skifahren, Tennis, Handball, Eishockey . . . Von den 4,4 Millionen Landeskindern (Senioren und Kleinkinder eingerechnet) haben 1,2 Millionen Arbeit. Rund 400 000 sind offiziell als arbeitsuchend gemeldet. „Wir bräuchten zwei Millionen Erwerbstätige, um klarzukommen“, sagte der Wirtschaftsfachmann Gavranovic. Es fehlt nicht einmal an Investoren, aber an geeigneten Strukturen. Als die Möbelhauskette Ikea im Umfeld der Hauptstadt einen neuen Markt eröffnen wollte, mussten die Schweden fast zwei Jahre auf die notwendigen Genehmigungen warten. „Wenn Sie hier zu einem Amt gehen“, sagt der Journalist Lovric, „haben Sie das Gefühl, dass sich nichts geändert hat.“  Da werde nach Gebührenmarken, Stempeln und Formularen gefragt, von denen selbst gebürtige Kroaten gar nicht wussten, dass es sie gibt.

    Die 17 Euro-Länder im Vergleich

    Österreich: Laut Prognosen steigt die österreichische Staatsverschuldung 2011 auf 73,8 Prozent der Wirtschaftsleistung. SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann, seit 2008 im Amt, steht in der Kritik. Allerdings nicht so sehr wegen der Schuldenkrise, sondern wegen Korruptions- und Untreuevorwürfen.

    Spanien: Mit einer Gesamtverschuldung von voraussichtlich 68,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes scheitert auch Spanien an den Maastricht-Kriterien. Der sozialistische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero scheiterte an der Schuldenkrise. Er wird durch den konservativen Mariano Rajoy ersetzt.

    Zypern: Mit einer Schuldenquote von 62,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes scheitert das kleine Land nur knapp an der Maastricht-Hürde von 60 Prozent. Dimitris Christofias ist seit 2008 Staatsoberhaupt und Regierungschef der Inselrepublik, die im Jahr 2004 Mitglied der Europäischen Union wurde.

    Slowenien: Auf 42,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden sich die slowenischen Schulden 2011 voraussichtlich belaufen. Damit bleibt das Land im vom Maastricht-Vetrag vorgegebenen Rahmen. Bei den Wahlen im Dezember 2011 dürfte der sozialdemokratische Regierungschef Borut Pahor dennoch sein Amt verlieren.

    Slowakei: Die Slowakei gehört mit prognostizierten 44,8 Prozent Verschuldungsquote auch 2011 zu den stabileren Euro-Staaten. Ministerpräsidentin Iveta Radicová kündigte im Oktober vorgezogene Neuwahlen an. Nur unter dieser Bedingung wollte die Opposition der Ausweitung des Euro-Rettungsschirms zustimmen.

    Portugal: Portugal ist mit geschätzten 101,7 Prozent Staatsverschuldung einer der Wackelkandidaten unter den Euro-Ländern. Pedro Passos Coelho ist seit Juni 2011 Premierminister. Er folgte auf José Sócrates, der im März nach einer gescheiterten Abstimmung über das Sparpaket seiner Regierung zurückgetreten war.

    Niederlande: Die Verbindlichkeiten wachsen bis zum Ende dieses Jahres voraussichtlich auf 63,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Aus den vorgezogenen Neuwahlen Ende 2010 ging der Liberale Mark Rutte als Sieger hervor. Seine Regierung wird vom Rechtspopulisten Geert Wilders toleriert.

    Malta: Der Inselstaat im Mittelmeer wird seine Schulden im laufenden Jahr nach bisherigen Prognosen bei 68 Prozent des Bruttoinlandsproduktes halten. Bereits seit mehr als sieben Jahren ist Lawrence Gonzi Regierungschef Maltas. Unter seiner Führung trat das Land im Mai 2004 der Europäischen Union bei.

    Luxemburg: Mit einer Gesamtverschuldung von etwa 17,2 Prozent der Wirtschaftsleistung in 2011 ist Luxemburg eines von nur fünf Ländern, die die Kriterien des Maastricht-Vertrages einhalten. Auch politisch ist das kleine Land ein Hort der Stabilität. Jean-Claude Juncker ist bereits seit 1995 Premierminister.

    Italien: Seit Monaten wird über Rettungsgelder für Italien spekuliert. Die Staatsschulden steigen 2011 auf geschätzte 120,3 Prozent der Wirtschaftsleistung. Nach langem Tauziehen trat Ministerpräsident Silvio Berlusconi zurück. Nachfolger Mario Monti bildete eine Übergangsregierung.

    Irland: Irland hatte als erstes Land Rettungsgelder in Anspruch genommen. Die Staatsschulden steigen in diesem Jahr auf schätzungsweise 112 Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt). Regierungschef Brian Cowen stürzte über die Schuldenkrise. Seit März 2011 ist Enda Kenny irischer Ministerpräsident.

    Griechenland: Mit einer dramatischen Schuldenquote von 157,7 Prozent der Wirtschaftsleistung bringt Griechenland die Euro-Zone in die größten Schwierigkeiten. Seit November 2011 ist Lucas Papademos Regierungschef. Er löste Giorgos Papandreou ab, der wegen seines harten Sparkurses massiv unter Druck geraten war.

    Frankreich: Die französische Staatsverschuldung steigt weiter. In 2011 wird ein Wert von 84,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwartet. Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat in der Krise an Rückhalt verloren. Bei den Wahlen 2012 droht ihm der Machtverlust.

    Finnland: Auf 50,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes schätzt die europäische Statistikbehörde Eurostat die finnische Staatsverschuldung in 2011. Der konservative Ex-Finanzminister Jyrki Katainen ist seit Juni 2011 Ministerpräsident. Er löste Mari Johanna Kiviniemi nach nur einem Jahr im Amt ab.

    Estland: Estland ist der Musterschüler unter den Euro-Ländern. Die Staatsschulden fallen 2011 voraussichtlich auf 6,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Der diplomierte Chemiker Andrus Ansip lenkt seit 2005 als Premierminister die Geschicke des nordeuropäischen Staates, der 2004 der EU beitrat.

    Deutschland: Deutschland gilt als Stabilitätsgarant in Europa. Mit einer Schuldenquote von 82,4 Prozent der Wirtschaftsleistung verstößt aber auch die Bundesrepublik gegen die Stabilitätskriterien. Angela Merkel (CDU) ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Ihre Koalition hat seit der letzten Wahl deutlich an Zuspruch verloren.

    Belgien: Mit prognostizierten 97 Prozent Staatsschulden in Relation zur Wirtschaftsleistung gehört Belgien zu den Sorgenkindern. Seit Juni 2010 gibt es in Brüssel keine gewählte Regierung – ein unrühmlicher Weltrekord. Die Hoffnungen, dass sich daran bald etwas ändert, erhielten im November 2011 einen empfindlichen Dämpfer.

    Wenn junge Leute ein Geschäft eröffnen wollen, lege ihnen die amtliche Bürokratie so viele Steine in den Weg, dass sie am Ende entmutigt wieder aufgeben. Marija gehört dazu. Die 32-jährige Hausfrau und Mutter wollte eine Schneiderei eröffnen und junge Designerinnen beschäftigen. Sie kämpfte sechs Jahre für die notwendigen Genehmigungen. Dann gab sie auf.

    Kroatien muss stabilisiert werden

     „Das Land hat viel geschafft“, sagt Dietmar Dirmoser, der seit zwei Jahren das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Zagreb leitet. „Man hat innerhalb von 15, 20 Jahren die Demokratie und die Marktwirtschaft installiert und friedenssichernde Maßnahmen mit den Balkannachbarn getroffen. Das ist eine große Leistung. Aber jetzt muss das Land selbst stabilisiert werden.“ Das heißt wohl auch: Vertrauen in die politische Spitze schaffen.

    Korruption benennen Kroaten in großer Übereinstimmung mit den EU-Gutachtern als großes Problem. Die Tatsache, dass mit Ivo Sanader ein ehemaliger Regierungschef verurteilt hinter Gittern sitzt, hält dem Land ständig vor Augen, wie hinter den Kulissen geschoben wurde   und wird. „Die Bürokratie verleitet dazu, sich Genehmigungen auf anderen Wegen zu holen, wenn die legalen unmöglich erscheinen“, hört man immer wieder.

    Hinzu kommt auch massive Verärgerung über die EU. Die habe sich bei den Beitrittsverhandlungen nicht selten „autoritär und unsensibel“  gezeigt, sagt Ivo Lovric. Nationale Eigenheiten wurden weggedrückt, Ängste übergangen. Das zeige sich in Kleinigkeiten. Wochenlang wurde über traditionelle Herstellungsverfahren für landwirtschaftliche Produkte wie Käse oder Schinken gestritten. Am Ende setzten sich die Brüsseler Unterhändler durch und verordneten den kroatischen Produzenten die Umstellung auf EU-Standards. „Das hat für viele Antipathien gesorgt“, sagt die Professorin Samardzija.

    Beitrittsverhandlungen gestalteten sich schwierig

    80.000 Seiten europäische Vorschriften musste die Regierung in Zagreb übernehmen, durchs Parlament bringen und den eigenen Bürgerinnen und Bürgern antragen. „Immer mit dem Versprechen, dass dann alles besser wird“, sagt der angehende Chirurg Tomislav. Sein Bruder Josip ergänzt: „Solche Versprechen hören wir schon zu lange.“

    Dabei müssen die Kroaten noch ein weiteres Problem lösen. Denn auch wenn die meisten Narben des Krieges in den 1990er Jahren geheilt scheinen, es gibt noch viele Wunden. „Der Balkan hat Störpotenzial“, hat Kroatiens Außenministerin Vesna Pusic erst vor kurzem erklärt.

    Noch sind die Beziehungen zu den wichtigsten Nachbarn Serbien und Bosnien-Herzegowina politisch nicht wirklich geklärt. Vielleicht schauen viele Kroaten auch deshalb besonders auf ein Ereignis, das die offiziellen Beitrittsfeierlichkeiten am 1. Juli überlagern könnte: Unter den Ehrengästen wird auch der serbische Präsident Tomislav Nikolic sein. Es ist der erste Besuch eines Staatsoberhauptes aus Belgrad seit dem Ende des Balkan-Krieges. Für Kroatien ein weiterer Hoffnungsschimmer, ausgerechnet an dem Tag, an dem das Land zur EU stoßen wird.

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