Zu den kruden Theorien, die in dieser Form wohl nur Großbritanniens europaskeptische Boulevardpresse spinnen kann, gehört jene, nach der Brüssels Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier Schuld an Boris Johnsons Infizierung mit Covid-19 haben könnte. Barnier und sein britischer Gesprächspartner David Frost trafen sich nämlich Anfang März zur ersten Runde der Verhandlungen über ein künftiges Freihandelsabkommen. Kurze Zeit später gab Barnier bekannt, er sei positiv auf das Coronavirus getestet worden, Frost zeigte ebenfalls milde Symptome. Die Mail on Sunday überlegte daraufhin öffentlichkeitswirksam auf der Titelseite, ob Barnier als „Patient null“ für die Ansteckungskette in der Downing Street verantwortlich zeichnete, in der auch Großbritanniens Premierminister Johnson schwer erkrankte.„Könnte dies die ultimative Rache für den Brexit sein?“, fragte die Zeitung.
Die Gerüchte um Johnsons Krankheit belegen die große Gereiztheit
Die Episode veranschaulicht, dass der Ton beim Thema Brexit auch nach dem offiziellen EU-Austritt Großbritanniens am 31. Januar dieses Jahres rau bleibt – trotz Coronavirus-Krise auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Diese Woche startete via Videokonferenz die zweite Verhandlungswoche, nachdem zwei Runden abgesagt wurden, um den beiden führenden Unterhändlern Zeit zur Genesung zu geben. Wer jedoch geglaubt hat, dass die Pandemie Großbritannien dazu bewegt, eine Verlängerung der am 31. Dezember auslaufenden Übergangszeit zu beantragen, sah sich getäuscht.
Frost gab via Twitter die Regierungslinie vor, nach der London nicht darum bitten werde, die Phase zu verlängern, in der sich de facto nichts ändert. „Und wenn die EU danach fragt, werden wir Nein sagen.“ Ein Aufschub der Frist bringe nur Unsicherheit für Unternehmen, zudem führe er dazu, dass die Briten weiterhin Beiträge an die EU zahlen müssten, so die Argumente der Brexit-Hardliner. Hinzu käme, dass man angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen durch die Coronavirus-Krise freie Hand wünsche ohne Bindung an EU-Regeln.
Laut einer Umfrage sind zwei Drittel der Briten für einen Brexit-Aufschub
Will die britische Regierung tatsächlich einen No-Deal-Brexit riskieren? Ausgerechnet dann, wenn das Land ohnehin schon mit den Auswirkungen des derzeitigen Lockdowns kämpft? Umfragen haben ergeben, dass zwei Drittel aller Briten eine Verlängerung der Übergangszeit befürworten. Sogar knapp die Hälfte der Brexit-Anhänger finden, man brauche mehr Zeit.
Denn schon ohne Corona-Desaster war der Zeitplan so eng gestrickt, dass ein umfassender Freihandelsvertrag bis Ende des Jahres fast unmöglich schien. Normalerweise dauern entsprechende Verhandlungen fünf bis zehn Jahre.
Ohne einen Handelsvertrag drohen ab Januar 2021 Zölle und Kontrollen – Unternehmen fürchten eine zusätzliche Belastung für das von der Coronavirus-Krise ohnehin schwer getroffene Königreich. „Es klingt zynisch, aber einige Brexit-Befürworter finden, dies ist eine gute Zeit, um negative Brexit-Folgen zu kaschieren“, sagt Politologe Anand Menon.
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