Dass er in seinem Leben nochmals auf Prothesen gehen wird, hat Dieter Neumann abgeschrieben. „Es geht nicht mehr. Ich bin zu schwer. Das würde mich quälen.“ Er reibt sich sein wegen der Kälte in Fleece und Leder gepacktes Bein oder, besser, das, was davon übrig geblieben ist.
32 Operationen hat der 50-Jährige hinter sich, verbrachte summa summarum zehn Jahre im Krankenhaus. Zweimal schon stand sein Leben auf der Kippe. Inzwischen fühlt er sich gesundheitlich stabil. „Trotzdem habe ich noch immer Phantomschmerzen“, erzählt Neumann. „Ich spüre meine Zehen, obwohl sie längst nicht mehr da sind.“ Er habe aber gelernt, die Schmerzen mithilfe von autogenem Training zu ertragen.
Der linke Daumen ist am Oberarm festgewachsen
Als Neumann am 28. Juni 1961 in der Augsburger Kinderklinik Josefinum zur Welt kommt, stellen die Ärzte schwerste Schäden fest: „Multiple Extremitätenmissbildung“, lautet die Diagnose. Der linke Daumen ist am Oberarm festgewachsen, der rechte Fuß ohne Bein ragt direkt am Becken heraus, das linke Bein spreizt sich als Klumpfuß nach hinten.
Dazu kommen Nierenprobleme, spastische Bronchitis und Anämie, Blutarmut. „Die Ärzte sagten mir eine Lebenserwartung von maximal zwei Jahren voraus. Gott sei Dank kam es anders. Heute liege ich 25 Mal drüber“, sagt Neumann durchaus mit Stolz und verzieht seinen Mund zu einem schiefen Lächeln.
Schon als Bub hat er sich mit erstaunlicher Tapferkeit durchs beschwerliche Leben gekämpft. Mit Unterstützung eines Arztes lernt er Schwimmen und schafft es bis zum deutschen Meister bei den Behinderten-Wettbewerben. Das ist lange her. Heute kann er keinen Sport mehr betreiben. Zwar wirken der Oberkörper und der intakte Arm noch muskulös. „Doch die Gelenke sind abgenutzt“, erklärt Neumann. Seine körperliche Betätigung beschränke sich auf Unterwassermassagen und Gymnastik.
Verdacht fällt auf Radarstation
Worauf seine Missbildungen zurückzuführen sind, bleibt lange Zeit unklar. Zunächst tippen die Experten auf Contergan. Die Zeit hätte gepasst. Anfang der 60er Jahre wurden die umstrittenen Schlaftabletten noch in Apotheken verkauft. Doch seine Mutter widerspricht: „Ich habe nie Schlaftabletten genommen.“
Dann, sagt Neumann, sei schon bald ein anderer Verdacht aufgekommen. Einem Augsburger Arzt sei bereits zu dieser Zeit, also noch in den 60er Jahren, „eine auffallende Häufung von Missbildungen bei derselben Familienanamnese des Vaters“ aufgefallen. Das heißt, drei Kinder von Soldaten, die in der Radarstation arbeiteten, hatten vergleichbare Fehlbildungen.
Neumanns Vater schulte damals Soldaten in der Luftaufklärungsstellung „Konny“ auf dem Lechfeld. Er war immer wieder ungeschützt Mikrowellen- und Röntgenstrahlung ausgesetzt. Denn die ersten Geräte stammten noch aus dem Korea-Krieg. Eine seriöse Untersuchung der Strahlenbelastung gab es nicht.
Strahlung veränderte das Sperma seines Vaters
Mittlerweile weiß Neumann mehr über die Ursachen seiner vielfältigen Behinderung. Er ist sich sicher, dass die Strahlung das Sperma seines Vaters genetisch veränderte, was wiederum zu seinen Missbildungen an Armen und Beinen führte. Der gelernte Bürokaufmann kratzt sich seinen stoppeligen Bart, den Rest des linken Beines hat er auf einen roten Gymnastikball gelegt, das linke wurde bereits vor Jahrzehnten amputiert.
Neumann rutscht nervös auf einer Kugelmatte hin und her, wie sie gerne auch Taxifahrer benutzen, weil sie so das lange Sitzen besser ertragen. Das Thema wühlt ihn auf. Es gehe um Gerechtigkeit, sagt er. Zusammen mit anderen Radaropfern und deren Kindern kämpft er schon seit zehn Jahren um eine Entschädigung von der Bundeswehr.
„Bub, jetzt müssen wir den Staat verklagen“
Rund hundert Fälle waren bekannt, als der stern 2001 erstmals über das Martyrium von Bundeswehrtechnikern berichtete, die in den sechziger und siebziger Jahren ungeschützt an Radarsystemen von Starfighter-Jets oder Marineschiffen gearbeitet hatten. Doch schnell meldeten sich immer mehr Betroffene. Auch bei der Nationalen Volksarmee waren Soldaten Radarstrahlen ausgesetzt. Am Ende klagten insgesamt knapp 2000 Opfer.
Der stern schrieb damals von einem der „größten Skandale der Bundeswehrgeschichte“. Keiner hatte bislang auf das Leid der Radartechniker und ihrer Familien reagiert: Sie hatten und haben Hoden-, Prostata-, Blasen- oder Blutkrebs. Dazu kamen Missbildungen, Herzrhythmusstörungen, Hirntumore, Querschnittslähmungen.
Verteidigungsministerium hatte Angst vor den Kosten
Bei den Neumanns stürmte damals Vater Lothar ins Zimmer seines Sohnes und sagte ziemlich aufgeregt: „Bub, jetzt müssen wir den Staat verklagen.“ Alles schien sich zum Guten zu wenden. Der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) versprach den Betroffenen, er werde unbürokratisch entschädigen. Für 461 Opfer war das auch der Fall.
Verschiedene Krebsarten sind anerkannt worden. „Alles, was sich nicht exakt zuordnen ließ, blieb aber außen vor“, erzählt Heinz Dankenbring, Vorstandsmitglied im Bund zur Unterstützung Radargeschädigter. Das Verteidigungsministerium machte die Schotten schnell wieder dicht. „Die hatten Angst, dass finanziell zu viel auf sie zukommt“, sagt Dankenbring, der heute in Kaufbeuren lebt und früher mit Neumanns Vater am Radar arbeitete.
Wieder vergingen zehn Jahre – nichts passierte. Dieter Neumann wartet weiter auf Entschädigung, auf Hilfen des Staates. Keinen Euro hat er bisher gesehen. Dabei stünden ihm, wenn sein Fall anerkannt werden würde, von Gesetzes wegen mindestens eine Million Euro zu. Der 16000 Euro teure Hightech-Rollstuhl, in dem Neumann sitzt wie in einem Kommandostand, wurde vom Lions-Club Friedberg, dem Sozialwerk unserer Zeitung, der Kartei der Not, sowie bundeswehrnahen Sozialwerken finanziert.
Neumann geht selbstständig einkaufen. Er ist mobil
Mit seinem Fahrzeug fühlt sich Neumann mobil. Um rund 40 Zentimeter kann er den Sitz rauf- und runterschnurren lassen: „So kann ich mit jedem auf Augenhöhe reden.“ Sprach’s, lässt sich von seinem Stuhl im Café in die Höhe fahren und grinst auf seinen Gesprächspartner herunter. Neumann geht selbstständig einkaufen. In Friedberg, wo er seit Jahren in einem Bungalow im Sozialzentrum lebt, ist er bekannt wie ein bunter Hund. Auch in der bayerischen Politik ist der Name Dieter Neumann mittlerweile ein Begriff.
Denn der Opferverband startete in diesem Jahr eine neue politische Initiative. Die Grünen-Landtagsabgeordnete Christine Kamm nahm sich in diesem Zusammenhang des Falles von Dieter Neumann an. Ihre Partei brachte das Thema Radaropfer auch wieder in den Bundestag.
Dort wurde vor wenigen Wochen in Aussicht gestellt, dass die Bundesregierung im kommenden Jahr „eine Stiftung zugunsten der Radaropfer“ prüfen wird. Sie soll mit sieben Millionen Euro Kapital ausgestattet werden. „Ein lächerlicher Betrag“, ärgert sich Dankenbring, schon bevor es die Stiftung überhaupt gibt. Denn nur die Zinsen könnten als Entschädigung verwendet werden. Peanuts.
Prüfung zieht sich hin
Aus Sicht von Kamm sind zwei wichtige Punkte in der aktuellen Beschlusslage nicht berücksichtigt: Die Kinder von Radargeschädigten seien nicht ausdrücklich genannt und es gebe keine „Deadline“, bis zu welchem Zeitpunkt diese Prüfung erfolgen soll, sagt sie.
Im Landtag konnte Kamm bei einem interfraktionellen Gespräch erreichen, dass CSU-Sozialstaatssekretär Markus Sackmann seinem Parteifreund Christian Schmid, Staatssekretär im Verteidigungsministerium, schrieb, „die Prüfung möglichst schnell umzusetzen und auch geschädigte Kinder einzubeziehen“. Dankenbring: „Dazu müsste allerdings die Beweislast umgekehrt werden. Wie sollen die Kinder der Geschädigten nachweisen, dass ihre Missbildungen von geschädigten Spermien erfolgt sind?“ Er fordert: „Wir müssen den Druck auf die Bundeswehrverwaltung erhöhen. Die mauert und verzögert und wartet nur darauf, dass die Betroffenen wegsterben.“
Neumann glaubt trotzdem an Gerechtigkeit
Neumann verfolgt die Diskussion mit Skepsis. „Die warten auf eine biologische Lösung“, vermutet auch er. Doch den Gefallen will er der Bundeswehr vorerst nicht tun. „Ich werd’ hundert“, sagt er und ballt die Faust wie einst Boris Becker. Bürokraten hin oder her – Dieter Neumann ist überzeugt davon, das Ringen um eine Entschädigung zu gewinnen.
Er glaubt trotz aller Rückschläge an Gerechtigkeit in diesem Staat. Mit festem Händedruck verabschiedet er sich, schaltet die Scheinwerfer an und rollt davon ins Dunkel des Abends.