Das Corona-Virus sei nur erfunden, die Krise diene dem Ziel, das Bargeld abzuschaffen und Bill Gates plane eine weltweite Impfpflicht: Verschwörungsideologien wie diese geistern seit Monaten durch das Internet. Mitunter tragen Prominente wie Sänger Xavier Naidoo oder Vegan-Koch Attila Hildmann dazu bei, dass solch krude Ansichten sich rasant verbreiten – besonders über den russischen Nachrichtendienst Telegram. Die fehlende Kontrolle des Anbieters macht es möglich. Ein gefundenes Fressen auch für Rechtsextreme, die verunsicherte Nutzer so ungehindert radikalisieren, warnen Experten.
Die Haltung des Telegram-Anbieters bietet Verschwörungsideologien eine Basis
Wer momentan nach Verschwörungsideologien sucht, wird bei Telegram schnell fündig. Der Messenger, der – wie andere soziale Netzwerke auch – in der Corona-Krise viel Zulauf erlebt. Rund 400 Millionen Nutzer zählt der Dienst, allein täglich acht Millionen im deutschsprachigen Raum. Manche Kanäle haben gar ihre Nutzerzahlen in kurzer Zeit mehr als verdoppelt. Ein Grund für den Zulauf ist die Haltung des Anbieters, der – im Gegensatz zu anderen Nachrichtendiensten – bewusst bei der Verbreitung von Nachrichten und Inhalten nicht eingreift. Eine Ausnahme bilden Gruppen, in denen sich islamistische Radikale austauschen, die nach eigenen Angaben gelöscht werden.
Telegram ermöglicht Gruppen mit bis zu 200.000 Teilnehmern
Ein weiterer Grund für die Beliebtheit ist die Reichweite. Anders als etwa bei Whatsapp ist es hier möglich, Gruppen mit bis zu 200.000 Mitgliedern zu bilden, in Channels – die Mitglieder können nur passiv mitlesen – ist die Teilnehmerzahl sogar unbegrenzt. In diesem Umfeld taucht derzeit immer wieder ein bekanntes Gesicht auf: das des Sängers Xavier Naidoo. In seinem Channel mit aktuell fast 76.000 Abonnenten teilt er seine Ansichten, postet Inhalte aus Youtube und Facebook, aber auch von klassischen Medien, die er kommentiert. Zudem verlinkt er bekannte Verschwörungstheoretiker und Prominente mit ähnlichen Ansichten.
Durch diese Freiheiten ist Telegram nicht erst seit Beginn der Corona-Krise zu einer Anlaufstelle geworden für Rechtsextreme, Verschwörungsideologen, politisch Verfolgte, oder diejenigen, die mit ihren Ansichten woanders anecken. Allerdings sei das nicht das einzige Netzwerk, das so benutzt wird, betont Jürgen Grimm von der Universität Wien. Er forscht über Kommunikationsmuster der Radikalisierung und sagt: Trotz strengerer Kontrolle sind einschlägige Gruppen weiterhin auch auf Facebook zu finden.
Einschlägige Gruppen suchen sich neue Verbreitungswege auf Telegram
Nachdem die Aufmerksamkeit aber gewachsen ist und Facebook Kanäle sperrte, hätten sie sich andere Verbreitungswege gesucht. Genau diese Entwicklung sieht Politikwissenschaftler Josef Holnburger problematisch. „Es folgt oft nur der harte Kern auf die neuen Plattformen. Auch deshalb ist dort die Radikalisierung oft größer.“ Ein Phänomen, das er aktuell bei Telegram beobachtet.
Dabei sind Verschwörungsideologien grundsätzlich nicht verboten – solange deren Inhalte nicht radikalisieren und eine Gefahr für das Demokratische System darstellen. „Jeder hat ein Recht auf Idiotie“, sagt Grimm. Und keine Instanz könne dies verbieten. Allerdings dürfe die Politik bei der Verbreitung radikalisierender Inhalte nicht nur zusehen. Besonders, wenn rechtsextreme Trittbrettfahrer sich die Ängste der Menschen in der Corona-Krise zu nutze machten. Dann könnten diese „als Katalysator für demokratiegefährdende Ansichten“ wirken.
Die Gesetzeslage hat bei Messengerdiensten eine Lücke
Allerdings sind solche Inhalte in Nachrichtendiensten im Vergleich zu Plattformen wie Facebook nicht einfach zu regulieren: Während in großen sozialen Netzwerken rechtsradikale Inhalte durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) gelöscht oder zumindest gemeldet werden können, greift es bei Messengerdiensten nicht. Das Gesetz zielt auf Anbieter von Plattformen ab, die eine „Gewinnabsicht“ verfolgen, sagt eine Sprecherin des Bundesministeriums der Jusitz und für Verbraucherschutz. Plattformen zur individuellen Kommunikation zählen nicht dazu – obwohl halbprivate Telegram-Gruppen, die große Massen erreichen können, der Kommunikation auf Plattformen ähneln.
Ob im Einzelfall ein bestimmter Dienst ein soziales Netzwerk darstellt, wird vom zuständigen Bundesamt für Justiz geprüft, wenn dieser gegen das NetzDG verstößt. Trifft das zu, können sowohl gegen den Anbieter der Plattform als auch den Verfasser des Inhaltes rechtliche Schritte eingeleitet werden. Bei Telegram jedoch ist das nicht so einfach: Nur wenig ist über die Anbieter bekannt. 2013 in Russland von Pavel Durov und seinem Bruder Nikolai gegründet, hat das Unternehmen inzwischen seinen Sitz in Dubai. Ein Impressum gibt es aber nicht.
Politik ist gegen Radikalisierung bereits vorgegangen
Trotz der Schwierigkeit, radikalisierende Inhalte auf Nachrichtendiensten zu regulieren, habe die Politik schon einen wichtigen Schritt getan, sagt Politikwissenschaftler Holnburger. So hat das Gesundheitsministerium einen eigenen Infokanal zu Corona-Mythen erstellt. Maßnahmen wie diese wertet sein Wiener Kollege Grimm zwar als richtig und wichtig, sieht aber noch mehrere Stellschrauben, an denen gedreht werden müsse: Als wichtigsten Punkt nennt er die Förderung eines kritischen Bewusstseins und Verantwortung für Inhalte im Internet.
Gelingen könne dies auch nach Ansicht von Holnburger durch „menschliche Fact Checker“– also Mitarbeiter, die strafbare Inhalte überprüfen und diese der Polizei und Staatsanwaltschaft melden. Allerdings müssten Plattformbetreiber und Behörden die Hinweise auch ernst nehmen, fordert Holnburger. Was bisher noch zu wenig der Fall sei. Als Grund sieht Grimm auch die wenigen Mitarbeiter, die angesichts radikalisierender Inhalte vor einer „riesengroßen quantitativen Herausforderung“ stünden – teilweise fehle auch die inhaltliche Kompetenz. Plattformen wie Facebook setzen daher neben menschlichen Faktencheckern vor allem Algorithmen ein, die aber nach Grimms Ansicht noch „zu wenig zielgenau“ seien. So komme es vor, dass etwa satirische Inhalte von Künstlern geblockt werden. Der Grat zwischen Meinungsfreiheit und Zensur wird dadurch schmal.
Lösungssansatz: Kooperation zwischen Anbietern und staatlicher Aufsicht
Die Verantwortung komplett an die Plattformen abtreten solle man deshalb nicht. Grimm sieht eine Kooperation zwischen Netzwerken und staatlicher Aufsicht als Möglichkeit. Genauso nimmt er auch die Politik in der Pflicht, ihre Entscheidungen nachvollziehbar zu erklären und Lösungsmöglichkeiten zu nennen. So könnte man manch krude Ansicht schnell entkräften. Allerdings nur bis zu einem gewissen Maße, schränkt Holnburger ein: Menschen mit „einem geschlossenen verschwörungsideologischen Weltbild“ seien auf diesem Weg nicht zu erreichen. In diesem Fall sei das persönliche Umfeld in der Pflicht, aufzuklären.
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