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Die vergessenen Erdbeben: Deutsche Atomkraftwerke in der Gefahrenzone

Die vergessenen Erdbeben

Deutsche Atomkraftwerke in der Gefahrenzone

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    Urplötzlich Wahlkampfthema in Baden-Württemberg: das Atomkraftwerk Neckarwestheim (Archiv). dpa
    Urplötzlich Wahlkampfthema in Baden-Württemberg: das Atomkraftwerk Neckarwestheim (Archiv). dpa

    Mitteleuropa ist zwar kein Gebiet mit hoher Erdbebenhäufigkeit, die Erdbebentätigkeit wird aber laut Geowissenschaftler Eckhard Grimmel vom Institut für Geografie in Hamburg in Deutschland weitgehend unterschätzt. Demnach gebe es in Mitteleuropa immer wieder Beben mit erheblichen Schäden, die die Ausmaße eines Großbebens annehmen könnten. Die Gebiete mit der höchsten Erdbebenhäufigkeit in Deutschland sind das Rheingebiet, das Bodensee-Neckar-Gebiet und das sächsisch-thüringische Gebiet.

    In der südlichen Zone stehen mehrere Atomkraftwerke: Neben Gundremmingen, Neckarwestheim (nahe Heilbronn), Philippsburg (nahe Karlsruhe) und Biblis (Hessen) liegen drei weitere Atomkraftwerke in der Schweiz in diesem Bereich. In der unmittelbaren Nähe ereignete sich im Jahr 1356 das große Erdbeben von Basel, das auf der MSK-Skala einen Wert von 10 einnimmt. Das bedeutet: Spalten im Boden bis ein Meter Breite und Einstürze vieler Bauten. Die deutschen Atomkraftwerke seien aber laut Grimmel nur bis zu einer Erdbebenstärke 8 auf der MSK-Skala ausgelegt. Im Südwesten Deutschlands könne es jedoch Erdbeben der Stärke 11 geben. Nach historischen Aufzeichnungen stürzten in Basel am 18. Oktober im Jahr 1356 gegen 22 Uhr die Kirchen samt dem Münster ein. Im Umkreis von knapp zehn Kilometern wurden 34 Schlösser, Burgen und Dörfer zerstört. Selbst 100 Kilometer entfernt, in Straßburg, stürzten Schornsteine und Giebelteile ein.

    „Deutsche Atomkraftwerke würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit historischen Beben in Mitteleuropa, wie beispielsweise dem Beben von Basel im Jahr 1356, nicht standhalten“, warnte Grimmel bereits am Dienstag. Der Geowissenschaftler weiter: „Das ist leichtfertig. Das habe ich auch mehrfach angeprangert und den Genehmigungsbehörden mitgeteilt.“ Im Laufe des Dienstags erklärte Umweltminister Norbert Röttgen, dass alle Atomkraftwerke Deutschlands auf ihre Erdbebenfestigkeit überprüft werden. Am gleichen Tag kündigte Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus an, das Atomkraftwerk Neckarwestheim vom Netz nehmen zu wollen.

    Erdbeben: Atomkraftwerke auf Sicherheit überprüfen

    Zuvor hatte das Umweltministerium von Baden-Württemberg Kontrolleure in die Meiler des Bundeslandes entsandt. Wie unsere Zeitung erfuhr, wurde auch die Erdbebensicherheit überprüft. Laut Umweltministerium entsprächen die Atomkraftwerke den Kriterien. Dennoch hat Mappus eine Expertenkommission eingesetzt. Diese soll „rasch prüfen, welche Konsequenzen wir für die in Baden-Württemberg betriebenen Kernkraftwerke ziehen müssen“. Und weiter: „Kernkraftwerke, die nicht den erforderlichen Sicherheitsansprüchen genügen, werden abgeschaltet.“ Dabei sollen die bisherigen Annahmen zur Risikovorsorge neu bewertet und geklärt werden, ob das Spektrum denkbarer Ereignisse vollständig abgedeckt ist.

    Ein weiteres Risiko bei der Erkennung von Erdbeben ist die oft große zeitliche Spanne dazwischen. Die Beben geraten in Vergessenheit. Erdgeschichtlich gesehen sind Abstände zwischen den Beben von mehreren hundert Jahren ein Wimpernschlag. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt aber, dass es in Mitteleuropa immer wieder starke Beben gegeben hat. Auch weiß niemand, ob es zu noch stärkeren Erdstößen kommen kann, da meist nur lückenhafte Daten aus den letzten gut 1000 Jahren zur Verfügung stehen. Das Bundesumweltministerium gibt zu: „Da dieser Zeitraum (...) nicht lang genug ist, werden auch geologische Erkenntnisse mit herangezogen.“

    In Deutschland seien laut Grimmel eine ganze Reihe von Erdbeben mit der Intensität 7 oder 8 auf der MSK-Skala aufgetreten, seit 1800 allein 35 Erdbeben, vorwiegend im Ober- und Niederrheingebiet sowie im Raum Bodensee-Neckar. Dass die starken Erdstöße auch keine Einzelfälle seien, bestätigte der Seismologe Gottfried Grünthal vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam unserer Zeitung. Entlang des Rheingrabens habe es Beben gegeben, die auf der Richterskala die Marke 6 überschritten hätten. Beispielsweise die Dürener Erdbebenserie von 1755/56 mit 6,1 auf der Richterskala. Grünthal: „Solche Bebenstärken könnten immer wieder erreicht werden.“ Laut Spiegel Online gehe aus Studien des Umweltbundesamts hervor, dass bei Baustandards von Industrieanlagen Naturgefahren „oft wenig Aufmerksamkeit geschenkt“ werde. In einem Dokument heiße es, dass Betreiber ihre Aufmerksamkeit eher „technischen Risiken als der Erdbebengefahr“ widmeten.

    Alle deutschen Atomkraftwerke wären heute nicht mehr genehmigungsfähig

    Ähnlich sieht es der Münchner Strahlenexperte Edmund Lengfelder: „Der größte Teil unserer deutschen Atomkraftwerke hat einen Planungsstand aus den siebziger Jahren. Das heißt, heute wären eigentlich praktisch alle deutschen AKWs nicht mehr genehmigungsfähig“, sagte er im Rundfunk.

    Der Energiekonzern EnBW, der die Meiler Neckarwestheim und Philippsburg betreibt, wehrt sich auf Nachfrage unserer Zeitung gegen Kritik. Japan und Deutschland seien nicht vergleichbar. Ausschlagend für die Katastrophe in Japan sei der Tsunami. „Ein Tsunami oder eine extreme Wasserwelle kann für unsere Region ausgeschlossen werden.“ Auch die These von Eckhard Grimmel, dass Erdbeben bis zu einer Stärke von 10 auf der MSK-Skala möglich seien und Atomkraftwerke schädigen könnten, weist EnBW zurück: Die Anlagen wiesen hohe Sicherheitsreserven aus, die auch bei stärkeren Erdbeben vorhanden seien.

    Dennoch will EnBW den Atommeiler Neckarwestheim I vom Netz nehmen. EnBW-Chef Hans-Peter Villis begründete dies gestern mit einer „aktuellen Anforderungsliste zu Nachrüstungen“ durch das Land. Diese Anforderungen führten dazu, „dass ein dauerhaft wirtschaftlicher Betrieb“ des Meilers „voraussichtlich nicht mehr darstellbar“ sei.

    Info: Das sind Richterskala und MSK-Skala:

    Richterskala: Darauf wird die Energiefreisetzung bei Erdbeben gemessen. Beispiele: Ein Beben der Stärke 4–5 gilt als leicht: Zimmergegenstände bewegen sich. Ein Beben der Stärke 8–9 gilt als sehr groß: Zerstörungen im Bereich von Hunderten Kilometern.

    MSK-Skala: Die MSK-Skala beschreibt die Auswirkungen eines Bebens auf die Landschaft. Es gibt zwölf Stufen. Beispiele: Stärke VII: Risse im Verputz von Häusern; Stärke X: Spalten im Boden. Unsere nebenstehende Grafik bezieht sich auf die MSK-Skala.

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