Die Zahl der Corona-Fälle in der Türkei ist offenbar sehr viel höher als offiziell zugegeben. Gesundheitsminister Fahrettin Koca musste jetzt unter dem Druck der Opposition einräumen, dass Infizierte ohne Symptome nicht in die amtliche Statistik aufgenommen werden.
Mit diesem Trick werden die Zahlen erheblich gedrückt. Die Enthüllung könnte Auswirkungen auf die Einstufung türkischer Feriengebiete als sichere Regionen für deutsche Urlauber haben. Bisher hielt das Auswärtige Amt vier Küstenregionen der Türkei für sicher – weil die offiziellen Corona-Zahlen dort besonders niedrig sind.
Deutschland zählt Fälle, die Türkei Patienten
Während in vielen Ländern die Zahl der Neuinfektionen derzeit ansteigt, meldet die türkische Regierung seit Tagen fallende Zahlen. Zuletzt wurden demnach knapp 1400 neue Patienten pro Tag gezählt; vor einer Woche waren es noch fast 1800. In Deutschland, das mit 80 Millionen Menschen etwa so viel Einwohner hat wie die Türkei, registriert das Robert-Koch-Institut (RKI) derzeit mehr als 2000 neue Fälle pro Tag.
Wie sich jetzt herausstellt, liegt das nicht etwa daran, dass die Türkei im Kampf gegen das Corona-Virus erfolgreicher wäre als andere Länder. Entscheidend ist der Unterschied zwischen den Begriffen "Patient" und "Fall". In Deutschland ist jeder Fall meldepflichtig, ganz gleich ob ein Betroffener die für die Lungenkrankheit Covid-19 typischen Symptome zeigt oder nicht, wie das RKI am Donnerstag unserer Zeitung bestätigte.
In der Türkei dagegen zählt die Regierung seit Ende Juli nicht mehr alle Infizierten, sondern nur noch "Patienten". Gesundheitsminister Koca begründete dies jetzt mit dem Argument, dass nicht jeder Infizierte auch krank werde. Die "große Mehrheit" der Infizierten habe keine Beschwerden.
Corona in der Türkei: Fast 60 Prozent der Wähler misstraut den Zahlen
Genaue Zahlen nannte der Minister nicht. Sein Hinweis auf die "große Mehrheit" der Infizierten ohne Symptome deutet aber daraufhin, dass die tatsächliche Zahl der täglichen Corona-Ansteckungen in der Türkei um ein Mehrfaches höher liegt als bisher angegeben. Die Opposition vermutet, dass noch wesentlich mehr Infektionen bewusst ignoriert werden. Der Abgeordnete Murat Emir von der Partei CHP veröffentlichte jetzt die Ergebnisse landesweiter Laboruntersuchungen. Demnach wurden allein am 10. September mehr als 29.000 Menschen positiv getestet – doch die offizielle Statistik für diesen Tag berichtete von lediglich rund 1500 neuen "Patienten".
Minister Koca solle erklären, warum die Laborergebnisse fast 20 Mal höher lägen als die offiziellen Zahlen, forderte Emir. Koca räumte daraufhin den Trick mit den symptomfreien Patienten ein, doch Emir ist sicher, dass noch mehr verschleiert wird. Er vermutet, dass die türkischen Behörden in ihrer Statistik auch Corona-Kranke außen vor lassen, die nach einem positiven Test mit Husten, Fieber oder Atembeschwerden zu Hause sitzen.
Mit Kocas Eingeständnis sei jetzt das Lügengebäude des Ministers zusammengebrochen, sagte Emir am Donnerstag vor Journalisten: "Das Spiel ist aus." Seine Glaubwürdigkeit habe Koca längst verloren. Laut einer Umfrage misstrauten schon vorher fast 60 Prozent der Wähler den offiziellen Corona-Zahlen. Mit den manipulierten Zahlen will die Regierung nach Emirs Einschätzung neue Maßnahmen gegen das Coronavirus vermeiden, weil sie das dafür nötige Geld anderweitig ausgegeben hat. Die Regierung kämpfe gegen die Zahlen statt gegen das Virus, kritisierte Emir.
Volle Krankenhäuser, viele Todesfälle beim Klinikpersonal
Regierungskritiker berichten seit Monaten über volle Krankenhäuser, viele Todesfälle beim Klinikpersonal und andere Missstände. Als Reaktion forderte Nationalistenchef Devlet Bahceli, der Koalitionspartner von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Parlament, den türkischen Ärztebund zu verbieten, der häufiger mit regierungskritischen Stellungnahmen an die Öffentlichkeit geht und der Emirs Vorwürfe an Minister Koca bestätigt.
Kocas Trick untergräbt die Bemühungen der türkischen Tourismusindustrie, bei deutschen und anderen europäischen Urlaubern um Vertrauen zu werben. Mit einem groß angelegten Hygienekonzept für Hotels und dem Verweis auf sehr niedrige Infektionszahlen in Gegenden wie die Touristen-Hochburg Antalya hatte die Türkei bei der Bundesregierung in Berlin durchgesetzt, dass die Feriengebiete von der allgemeinen Reisewarnung für die Türkei ausgenommen wurden.
Ob die neuen Enthüllungen jetzt Auswirkungen auf die Einstufung der türkischen Urlaubsregionen durch das Auswärtige Amt in Berlin haben werden, stand am Donnerstag nicht fest. Den Zahlen des RKI zufolge haben sich in den vergangenen Wochen in der Türkei mehr Bundesbürger mit dem Coronavirus infiziert als in jedem anderen Land außerhalb der Bundesrepublik.
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