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DDR-Geheimdienst: Vom Stasi-Opfer zum Abwickler: Die Geschichte des Herrn M.

DDR-Geheimdienst

Vom Stasi-Opfer zum Abwickler: Die Geschichte des Herrn M.

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    Stürmische Zeiten voller Ungewissheit: Nach einer friedlichen Demonstration vor der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße dringen Tausende am 15. Januar 1990 in das Gebäude ein.
    Stürmische Zeiten voller Ungewissheit: Nach einer friedlichen Demonstration vor der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße dringen Tausende am 15. Januar 1990 in das Gebäude ein.

    Was er in Gesprächen, die vier oder fünf Jahrzehnte her sind, gesagt hat, weiß Christoph Märker noch ganz genau. Aber nicht, weil der grauhaarige 76-Jährige mit dem markanten Schnurrbart ein besonders gutes Gedächtnis hätte. Es steht alles in seiner Stasi-Akte. Die umfangreichen Unterlagen verwahrt er im Holzregal in seinem Arbeitszimmer in Berlin-Pankow. Hunderte von Dokumenten, die sich mit seiner Person befassen, die aber ohne sein Wissen angelegt worden sind. Über weite Teile seines Lebens schrieben Spitzel des DDR-Geheimdienstes seine Äußerungen mit. Sie öffneten selbst Briefe mit intimen Inhalten.

    Doch Christoph Märker ist nicht nur ein Stasi-Opfer. Vor 30 Jahren gehörte er zu einer kleinen Gruppe von Bürgern der untergehenden DDR, die mithalfen, dem Stasi-Spuk ein Ende zu machen.

    Märker ist es, der damals mit weichen Knien in der Zentrale des Geheimdienstes in Berlin-Lichtenberg vor einen Tisch tritt, an dem rund 30 hochrangige Stasi-Offiziere sitzen. Die Dienststellenleiter der jeweiligen Hauptabteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit, kurz MfS, blicken ihn gespannt an. Märker verkündet ihnen, wie die Auflösung der nur Wochen zuvor noch allmächtig erscheinenden Behörde erfolgen soll.

    Ausgerechnet bei dieser denkwürdigen Begegnung Mitte Januar 1990 schrieb keiner mehr mit. „Sinngemäß habe ich gesagt, meine Herren, wir sind hier, um die Abwicklung des Ministeriums für Staatssicherheit zu organisieren und alles dafür zu tun, dass es dabei zu keinen irreversiblen Ereignissen kommt“, erinnert sich Märker. Keine irreversiblen Ereignisse, damit meinte er: Es soll niemand ums Leben kommen. Seine Gefühle in diesem historischen Moment sind ihm, anders als die Worte, noch sehr präsent. Aufgeregt war er. Denn wie die Herren des Schnüffel-Imperiums reagieren würden, konnte er nicht wissen. Auch nicht, ob sie ihn – den Mann vom Bürgerkomitee – überhaupt akzeptieren würden.

    Und dann tritt er vor rund 30 hochrangige Stasi-Offiziere

    Alles scheint möglich in dieser Zeit, in der die Mauer zwar schon gefallen ist, die DDR aber noch besteht, und in der sich die alten Eliten verzweifelt an die Reste ihrer Macht klammern. Dass es im Oktober 1990 zur Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik kommen würde, ist damals noch nicht ausgemacht. Und die Stasi? Sie wankt.

    So stark, dass zum 31. März 1990 die 30.000 hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS entlassen werden, die Bezirks- und Kreisdienststellen wurden schon vorher geschlossen. Auch das konnte Christoph Märker allenfalls hoffen, als er zweieinhalb Monate zuvor in die Stasi-Zentrale ging. Die Stasi: Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl war das der größte geheimpolizeiliche Sicherheitsapparat in der Geschichte der Menschheit. Kilometerlang waren die Aktenregale mit den Erkenntnissen der Spitzel. Millionen Seiten Papier, unzählige Fotos, Überwachungsaufnahmen, Dokumente auf Mikrofilm – Informationen, die dem DDR-Regime dazu dienen sollten, Feinde des sozialistischen Systems zu erkennen und dann gnadenlos zur Strecke zu bringen.

    Als Gegner des sozialistischen Systems gilt auch Christoph Märker. Der politische Unterdrückungsapparat der DDR hat ihn von Kindesbeinen an im Visier, stammt er doch aus einem evangelischen Pastorenhaushalt. Der dick gesteppte Kaffeewärmer hat dort seinen festen Platz auf dem Telefon – keiner zweifelt daran, dass der Apparat verwanzt ist. Wie genau, wie lückenlos die Stasi sein Leben dokumentieren sollte, ahnt Christoph Märker jedoch nicht. Erst als der DDR-Staat Geschichte ist, erfährt er es aus seiner Stasi-Akte.

    In der steht auch, wie oft ihm Steine in den Weg gelegt wurden. Was er sagte, was er tat – es hatte unmittelbare Auswirkungen auf sein Leben.

    Aber Märker tut vieles trotzdem. Als Heranwachsender etwa weigert er sich, den sozialistischen Jugendorganisationen „Junge Pioniere“ und „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ) beizutreten. Das sei bei Kindern aus Pfarrerfamilien wegen der stark antireligiösen Haltung des Regimes die Regel gewesen, erklärt er.

    Eine der Folgen: Nach der achten Klasse verwehrt ihm der DDR-Staat den Besuch des Gymnasiums. Obwohl er Klassenbester ist. Es werde „jedoch ein offenes parteiliches Bekenntnis zum Arbeiter- und Bauernstaat vermisst“. So steht es im Ablehnungsschreiben der Schulbehörde an seine Eltern, das Märker in einer Klarsichthülle aufbewahrt.

    Er lässt sich also zunächst zum Elektromonteur ausbilden. Nach dem Abschluss der Abendschule nimmt er ein Studium an einer Ingenieursschule in Leipzig auf. Gute Leistungen führen dazu, dass er nach Dresden kommt, an die Technische Universität, Studium der Hochfrequenztechnik. Die Stasi-Spitzel halten fest: „Einer der ideologischen Hauptfeinde an der TU Dresden ist der M.“

    Der M., das ist Christoph Märker, der, wie ein anderer Bericht alarmiert feststellt, in einer studentischen Diskussion von einem Europa ohne Grenzen träumt. Mitten im Kalten Krieg, als der Eiserne Vorhang den Kontinent teilt, ein unerhörter Gedanke. In seiner Akte finden sich aber auch Abschriften höchst privater Briefe an damalige Freundinnen. Und, was Christoph Märker bis heute besonders schmerzt, Hinweise darauf, dass die Stasi in der evangelischen Studentengemeinde ihre Spitzel hatte.

    In der DDR wurden Märker immer wieder Steine in den Weg gelegt

    Christoph Märker beendet sein Studium erfolgreich, doch die Abschlussbewertung des MfS schließt mit der Maßnahme: „Das Eindringen des M. in verantwortliche Tätigkeiten ist zu verhindern.“ Dennoch wird er zu einem der Software-Pioniere der DDR. Für das damalige Centrum-Warenhaus am Ostberliner Alexanderplatz, heute Galeria Kaufhof, schreibt er ein Programm zur Vernetzung der Kassenabrechnungen, das stets die aktuellen Umsatzzahlen und Wechselgeldbestände der Kassierer ausweist. Doch immer, wenn Märker sich für eine leitende Stelle bewirbt, erntet er Absagen.

    Seine berufliche Heimat findet er schließlich in der Verwaltung des Diakonischen Werks der DDR, wo er die Einführung der elektronischen Bürokommunikation vorbereitet. Er gründet eine Familie, engagiert sich in den 80er Jahren in der Gethsemanekirche im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Die Gemeinde ist eines der Zentren der Systemkritik in der DDR. Unterschiedliche Gruppen, neben Bürgerrechtlern auch Umweltschützer oder Feministinnen, finden dort eine Plattform. Märker beteiligt sich an vielen Diskussionen und wird Mitglied im Gemeindekirchenrat.

    Märker im Jahr 1990. Damals trat er vor die Stasi-Offiziere.
    Märker im Jahr 1990. Damals trat er vor die Stasi-Offiziere.

    Die Stasi hat immer ein Auge auf ihn. Verhaftet, eingesperrt oder misshandelt, so wie viele andere, wird er nie. Vielleicht, so glaubt er heute, weil er sich gar nicht erst um Heimlichkeit bemüht und seine Kontakte in den Westen offen pflegt. Über eine Flucht denkt er nie ernsthaft nach. Gut möglich, dass er bei seiner Wanderung auf dem schmalen Grat des gerade noch Sagbaren einfach nur Glück hat. M. ist ausweislich seiner Stasi-Akte keiner, der laut „Wir wollen Reisefreiheit“ ruft. Wohl aber fragt er in Diskussionen: „Warum können wir eigentlich nicht nach Italien fahren?“

    Einmal drückt er dem für die Stasi zuständigen örtlichen Stadtrat für Inneres in aller Öffentlichkeit eine Abhöreinrichtung in die Hand, die er aus seiner Telefonanlage entfernt hat. Er sagt: „Ich möchte kein Staatseigentum entwenden.“

    Im Oktober 1989 kommt es vor der Gethsemanekirche zu friedlichen Massenprotesten. Tausende Menschen demonstrieren mit Kerzen in den Händen für Reformen. Doch dann gehen Einheiten von Staatssicherheit und Volkspolizei mit Gewalt gegen die Regimegegner vor. Mehr als tausend Menschen werden verhaftet und teils wochenlang festgehalten. Es ist eines der letzten Male, in denen das Regime sein brutales Gesicht zeigt.

    Christoph Märker verfolgt die Geschehnisse durch einen fast unglaublichen Zufall in London am Fernseher. Wegen des runden Geburtstags einer betagten Tante hat er eher unverhofft einen Westbesuch antreten dürfen. Und ein westdeutscher Freund schenkt ihm und seiner Frau einen viertägigen Trip nach England, den sie mit westdeutschen Ersatzpapieren unternehmen.

    Für Märker steht heute fest: „Wäre ich damals in Berlin gewesen, wäre ich ziemlich sicher auch verhaftet worden. Dann hätte ich diese Unbefangenheit nicht gehabt und dann wäre ich nicht der Richtige gewesen, um bei der Auflösung der Stasi mitzumachen.“

    Märker teilte der Stasi-Prominenz mit, dass ihre Behörde Geschichte ist

    Im Herbst 1989, nach seiner Rückkehr, überschlagen sich die Ereignisse. Die herrschende SED ist moralisch und die DDR wirtschaftlich wie finanziell bankrott. Am 9. November fällt die Berliner Mauer, die die Stadt 28 Jahre lang teilte. Weil es Hinweise gibt, dass die Stasi massenhaft Unterlagen vernichtet, gründen sich in vielen DDR-Städten Bürgerkomitees, die die örtlichen MfS-Dienststellen besetzen. Am 15. Januar 1990 stürmt eine aufgebrachte Menge auch die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg.

    Würden Stasi-Opfer versuchen, sich für erlittenes Unrecht zu rächen? Würden Geheimdienstler von ihren Waffen Gebrauch machen?

    Keiner kann ausschließen, dass es zu Blutvergießen kommt. Um eine Eskalation zu vermeiden, setzt das Berliner Bürgerkomitee mit seinem Sprecher David Gill thematisch festgelegte Arbeitsgruppen zur geordneten Abwicklung der Stasi ein. Gill, der später Büroleiter von Bundespräsident Joachim Gauck werden sollte, bittet Christoph Märker, der als Ausbund an Gelassenheit gilt, die Arbeitsgruppe Koordination zu übernehmen. Der damals 45-Jährige sagt Ja, ohne groß nachzudenken. Stellt sich vor die Stasi-Prominenz, erklärt ihr, dass ihre Behörde Geschichte ist. Und die Geheimdienst-Elite fügt sich tatsächlich, erklärt sogar widerwillig ihre Kooperation. Keiner zieht eine Waffe gegen Märker und seine Mitstreiter.

    Die Mitglieder der Arbeitsgruppen, rund 70 Frauen und Männer, führen Gespräche mit den anwesenden Mitarbeitern des MfS über die Gründe und Ziele der Auflösung. Sie sichern die Akten, die noch vorhanden sind, und schaffen damit die Grundlage für das heutige Stasi-Unterlagen-Archiv. Als erste Maßnahme werden die Schredder, die in vielen Stasi-Büros auf Hochtouren laufen, einkassiert. Wertvolle Kunstwerke, die die Spitzelbehörde gehortet hat, werden sichergestellt.

    Bis heute vergeht kein Tag, an dem Märker nicht über die Stasi nachdenkt

    Der einstige DDR-Oppositionelle Christoph Märker heute, mit 76 Jahren.
    Der einstige DDR-Oppositionelle Christoph Märker heute, mit 76 Jahren. Foto: Christoph Märker

    Bürger melden Märker und anderen am Telefon auch Stasi-Wohnungen, die daraufhin aufgelöst werden. Einmal kommt es zu einer höchst brenzligen Situation. Zwei der MfS-Abwickler sind zu einer konspirativen Wohnung gefahren, die gerade hastig von zwei Männern ausgeräumt wird. Als die beiden angesprochen werden, ziehen sie ihre Pistolen. Es sind keine Stasi-Leute, sondern russische Agenten. Der Zwischenfall geht glimpflich aus.

    Aus Angst, die Spitzel könnten in den Wirren der Auflösung im großen Stil Volksvermögen verschwinden lassen, stellen Aktivisten Computer, Autos und Möbel der Stasi sicher. Doch die vermeintlichen Wertsachen entpuppen sich, als plötzlich Westprodukte erhältlich sind, als wertloser Schrott.

    Und dann das: Zum 31. März 1990 sind die 30.000 hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS entlassen.

    Bis heute vergeht kein Tag, an dem Christoph Märker nicht über die Stasi und ihre Funktion in der DDR nachdenkt. Nachdem sie ihre Aufgabe erledigt hatten, löste sich die Gruppe der Stasi-Abwickler auf. „Es ist sicher nicht alles perfekt gelaufen, wir konnten vielleicht nicht alle Akten retten. Aber dass keiner in Panik verfiel, dass keiner mordete und keiner getötet wurde, das ist für mich bis heute ein Wunder und dafür bin ich dankbar“, sagt er.

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