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Coronavirus: Journalismus in der Corona-Zeit: "Wir erleben eine Infodemie"

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Journalismus in der Corona-Zeit: "Wir erleben eine Infodemie"

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    In Krisen bestimmt oft ein einziges Thema die Nachrichtenlage. Für den Journalismus ist das eine Herausforderung.
    In Krisen bestimmt oft ein einziges Thema die Nachrichtenlage. Für den Journalismus ist das eine Herausforderung. Foto: Frank Rumpenhorst, dpa

    Seit Wochen beschäftigt die ganze Welt ein einziges Thema: das Coronavirus. Das gilt auch für Journalisten. In Zeitungsartikeln, TV-Berichten, Internet-News, Radiobeiträgen und Podcasts ist die Corona-Pandemie omnipräsent. Die Meldungen überschlagen sich. Viele wichtige Nachrichten gehen in der Masse der Corona-Berichterstattung unter. Gleichzeitig kursieren über Covid-19 viele Gerüchte und Spekulation, vor allem im Internet. Anruf bei Bernhard Pörksen, einem der bekanntesten Medienwissenschaftler Deutschlands. Der Experte betont: "Wir sind im Moment nicht nur mit der Gefahr einer Virusinfektion konfrontiert, sondern erfahren auch, was es heißt, eine Infodemie zu erleben."

    Im Klartext bedeutet das, dass derzeit eine Flut an Informationen auf die Menschen einprasselt. Und auf die, sagt der Professor der Universität Tübingen, sind die meisten schlicht nicht vorbereitet. Denn mehr Informationen machen nicht automatisch mündiger, sagt Pörksen, sondern erhöhten die Chancen effektiver Desinformation: "Zumal und besonders im Moment der gefühlten und der tatsächlichen Gefahr. Weil wir im verzweifelten Versuch, Orientierung zu gewinnen und vielleicht auch andere zu warnen, womöglich vor allem auf das zurückgreifen, was wir ohnehin glauben und glauben wollen."

    Coronavirus: Seriöser Journalismus ist so wichtig und so gefährdet wie noch nie

    Und Gerüchte und Spekulationen erreichen aktuell viele Menschen in nie gekannter Direktheit auf privaten Kommunikationskanälen wie Whatsapp oder Facebook. Das führe zur "emotionalen Infektion", wie der Medienwissenschaftler es nennt: "Zu einer Gefühlsansteckung, die verunsichert und verstört." Ein Großteil der Menschen sei zwar medienmächtig und selbst zu Sendern geworden, allerdings noch nicht medienmündig, beschreibt es der Experte.

    Guter Journalismus sei deshalb noch nie so wichtig und noch nie so gefährdet gewesen wie heute, sagt Pörksen: "Das Interesse des Publikums explodiert, Einschaltquoten und Klickzahlen gehen durch die Decke." Viele Zeitungsverlage haben aktuell jedoch mit Umwälzungen an den Anzeigenmärkten zu kämpfen, berichtet der Medienwissenschaftler: "Das wird im Moment der Krise, in dem so viele Anzeigen storniert werden, besonders schmerzhaft deutlich."

    Die Corona-Pandemie reiht sich dabei in die großen Krisen ein, die nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern auch den Journalismus verändert haben - etwa die Terroranschläge vom 11. September 2001, die Finanzkrise 2008, die Flüchtlingskrise 2015. "Aber die Corona-Krise geht weiter", sagt Pörksen. Die Terroranschläge in New York seien trotz allem Schrecken lokal begrenzt gewesen, galten den USA. Die Finanzkrise sei vergleichsweise abstrakt gewesen: "Wer hat die Dynamik im US-Immobilienmarkt, die hier auslösend wirkte, schon im Detail verstanden?", gibt der Medienwissenschaftler zu bedenken. Und in der Flüchtlingskrise habe das Element der persönlichen Betroffenheit gefehlt: "Es war eine Krise der anderen, der 'Fremden'".

    Das Coronavirus besitze auch deshalb eine derart erschütternde Kraft, weiß Pörksen, weil sich maximal mobilisierender Krisenfaktoren scheinbar ballen: "Die Corona-Krise ist nicht global, nicht lokal, nicht abstrakt. Es gibt aufwühlende Schockvideos. Und das Virus ist demokratisch." Das bedeutet: Jeder ist unmittelbar in der eigenen Lebenswelt betroffen. Das Coronavirus zwingt auch eine Bundeskanzlerin in die Quarantäne oder einen britischen Premier auf das Krankenlager.

    Ausgangsbeschränkungen: Medienwissenschaftler hält Exit-Debatte für enorm wichtig

    Die Berichterstattung über Covid-19 bedeutet für seriöse Journalisten eine Gratwanderung. Auf der einen Seite haben sie die Aufgabe, zu informieren und einzuordnen, auf der anderen Seite wollen sie niemandem Angst machen, keine Panik auslösen.

    Eben das mache eine differenzierte und konstruktive Berichterstattung nicht einfach, weiß der Professor der Uni Tübingen. Er ist selbst als Journalist ausgebildet, arbeitete als Reporter, bevor er eine wissenschaftliche Laufbahn einschlug. Gerade zu Beginn der Corona-Krise hätten die Medien größtenteils noch gute Arbeite geleistet, sagt Pörksen: "Die Informationsphase des Anfangs lief aus meiner Sicht in der Summe sehr gut, sieht man vom Schnappatmungsjournalismus der Boulevardportale einmal ab." Er spricht dabei von glänzenden Erklärstücken, konstruktiven Alltagshilfen, umfassender Berichterstattung über die geplanten Maßnahmen und die medizinischen Notwendigkeiten.

    Mit Fortschreiten der Corona-Pandemie sei die politische Diskussion in vielen Medien jedoch zunehmend in den Hintergrund gerückt, berichtet Pörksen: "Es fehlte bisher das Drängen auf eine klar formulierte Strategie. Vielleicht weil Journalisten selbst von der schieren Wucht der Ereignisse mitgerissen wurden." Viel zu lange hätten Bundes- und Landespolitiker versucht, eine breite Debatte über den Sinn von Einzelmaßnahmen und die massiven Einschränkungen der Grundrechte abzubügeln, warnt der Experte. Eben dies monierte kürzlich auch Uli Bachmeier. Sich einer solchen Debatte zu verweigern, führe auf Dauer nur zu Missmut, heißt es im Kommentar des Münchner Landtagskorrespondenten der Augsburger Allgemeinen. Mit der Frage, wann wir einen Neustart wagen können und wie dieser aussehen könnte, beschäftigte sich kürzlich zudem die AZ-Politikredaktion. Auch Pörksen sagt: "Bloß keine Exit-Diskussion - das halte ich für einen schweren Fehler."

    Zum einen weil ohnehin niemand ernsthaft den Ad-hoc-Exit gefordert habe. Und zum anderen, weil damit die gesellschaftlich existenzielle Frage der Zukunftsperspektive gleich mit erledigt werde. Die Diskursverweigerung sei von der Prämisse geprägt gewesen: "Debatten verstören, sie verunsichern." Zwar sei das jetzige Bemühen, Zeit zu gewinnen, sinnvoll, weiß Pörksen. Es ließe sich allerdings noch kein umfassender und langfristiger Plan erkennen: "Wir sind im Bemühen, Leben zu retten, gerade dabei, Teile des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Trümmer zu legen." Und das ohne das Wissen um Ansteckungswege, eine bereits vorhandene Immunität, tatsächliche Infiziertenzahlen und spezifische Sterberisiken.

    Darüber hinaus könne die jetzige Anstrengung, Zeit zu gewinnen, nicht endlos fortgesetzt werden: "Die Kollateralschäden könnten irgendwann massiver als die Urkatastrophe sein." Und die Krise wird dauern. "Menschen brauchen eine Perspektive und die Maßnahmen benötigen eine breite Akzeptanz", sagt Pörksen. Auch in Bezug auf die grundsätzliche Struktur der Medien übt er Kritik: "Es haben sich Experten-Monopole herausgebildet." So fehle jenseits der Virologen-Perspektive das breitere Bild, um die gesellschaftlichen, ökonomischen und psychischen Folgewirkungen der aktuellen Maßnahmen in den Blick zu bekommen und auf ihre Effektivität und Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Der Medienwissenschaftler nimmt die Journalisten deshalb in die Pflicht: "Hier muss der politische Journalismus jetzt sehr viel entschiedener intervenieren." Er fordert, schon jetzt umfassende Gespräche über Schutz von besonders Gefährdeten und ein feinkörniges Risikomanagement.

    Drei konkrete Tipps für Nachrichtenkonsumenten in der Corona-Krise

    Konkrete Tipps hat der Medienwissenschaftler auch für die Konsumenten der Nachrichten, um sich vor allem vor Gerüchten und Spekulationen zu schützen: "Mir persönlich helfen drei Prinzipien bei der Medienmündigkeit", sagt Pörksen. Erstens das Prinzip der Quellenprüfung, nach der Leitfrage: "Ist die Quelle seriös, gibt es unterschiedliche Experten, die bestätigen, was hier behauptet wird?" Zweitens das Prinzip des Zögerns: "Muss ich wirklich sofort posten, was mich selbst gerade erst erreicht?" Es gelte also, Abschied zu nehmen vom kommentierenden Sofortismus, der nur zur weiteren Überhitzung des Kommunikationsklimas beitrage. Und drittens das Prinzip des umsichtigen Informationskonsums, erklärt der Medienwissenschaftler: "Wie finde ich für mich das richtige Maß aus engagierter Anteilnahme und abgrenzungsfähiger Selektion? Panik oder Ignoranz, beides wäre falsch."

    Über alle wichtigen Entwicklungen bezüglich des Coronavirus informieren wir Sie in unserem Live-Blog.

    Lesen Sie mehr zum Thema:

    Wie verändert sich die Arbeit von Journalisten in Zeiten des Coronavirus? In einer neuen Folge unseres Podcasts geben wir einen Einblick.

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