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Corona: Warum dauern Stiko-Empfehlungen so lange?

Corona

Warum dauern Stiko-Empfehlungen so lange?

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    Impfkommissionschef Thomas Mertens: Lieber evidenzbasiert als „eminenzbasiert“.
    Impfkommissionschef Thomas Mertens: Lieber evidenzbasiert als „eminenzbasiert“. Foto: Stefan Boness, Ipon/Imago Images

    In den Zeiten, bevor das Coronavirus sich seinen Weg von China aus mithilfe der Fluglinien um die ganze Welt bahnte, wussten fast nur Mediziner und Fachleute, aber wenige Normalsterbliche, was sich hinter der Abkürzung Stiko verbirgt. Damals vor der Pandemie traf sich die Ständige Impfkommission dreimal im Jahr, um Antworten auf viele oft umstrittene Fachfragen zu finden, zum Beispiel, ob man bereits Mädchen ab zwölf gegen Gebärmutterhalskrebs auslösende HP-Viren impfen soll oder Kleinkinder gegen Windpocken. Seit Entwicklung der Impfstoffe gegen Corona arbeiten die 18 Mitglieder der Impfkommission nicht nur im Dauereinsatz, sondern stehen dabei auch im Dauerfeuer.

    Wie so oft macht Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder wieder einmal seinen Unmut über die Wissenschaftler der unabhängigen Kommission Luft: „Es würde helfen, wenn sich die Ständige Impfkommission zu einer allgemeinen Booster-Empfehlung durchringt“, sagte der CSU-Chef der Funke Mediengruppe. „Eine Auffrischung muss für jeden möglich sein, der sie braucht und will.“ Außerdem sollte sich der Ethikrat mit der Frage einer Impfpflicht für Pflegekräfte noch einmal grundlegend beschäftigen.

    Jahrzehntealter Konflikt in der Medizin

    Nicht nur Söder, auch viele andere fragen, warum die Empfehlungen der Kommission so lange dauern. Das war schon bei der Frage so, als es darum ging, ob der in die Kritik geratene Impfstoff von AstraZeneca besser für über oder unter 60-Jährige empfohlen wird. Und es wiederholte sich im Sommer bei der Frage, ob Kinder und Jugendliche überhaupt gegen Corona geimpft werden sollten, wenn man die Nebenwirkungsrisiken gegen den Nutzen bei in der Regel mild verlaufenden Krankheitsbildern abwägt. Am Ende empfahl die Stiko die Impfung auch für zwölf bis 17-Jährige wie für Erwachsene.

    Hinter der Frage, warum das so lange dauerte, steht ein jahrzehntealter Konflikt der Medizin, der heute im Grunde längst gelöst ist. Bis in die Achtzigerjahre war das Klischee der „Halbgötter in Weiß“ nicht nur Stoff für Groschenromane, sondern es spaltete ganze Medizinergenerationen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Nordamerika.

    Wissenschaft contra eigensinnige Chefärzte und Pharmalobby

    Nicht nur junge Ärztinnen und Ärzte, sondern auch jene, die sich vor allem der Forschung widmeten, verzweifelten manchmal daran, wie schwer sich im Studium erlernter wissenschaftlicher Fortschritt in der Praxis umsetzen ließ. Sie erlebten, dass Behandlungen allzu oft von persönlichen Gewohnheiten der Chefärzte abhingen. Oder schlimmer noch von Pharmariesen, die ihre Behandlungsempfehlungen mit einer Art Marketing durchsetzten, die man heute in vielen Fällen unter Korruption einordnen würde.

    Leidtragende des Kosmos aus Eminenzen ähnlich gebarenden Chefärzten und Pharmalobbyisten waren die Patientinnen und Patienten, die entweder als Versuchskaninchen für umstrittene Präparate herhalten mussten oder am Stand der Wissenschaft vorbei therapiert wurden. Die moderne Medizinergeneration forderte jedoch, dass Behandlungen allgemein und unabhängig dem gut erforschten Stand der Wissenschaft entsprechen sollten. Die Basis dafür sollten wissenschaftlich gut begründete Behandlungsempfehlungen sein.

    Was ist evidenzbasierte Medizin?

    Mediziner und Wissenschaftler nennen den Nachweis einer Wirksamkeit oder der Theorie in der Praxis Evidenz, vom lateinischen Wort für Ersichtlichkeit und Klarheit und vom englischen Begriff für Beweis. So gab der kanadische Epidemiologe und Forscher David Sackett 1990 der Ausrichtung auf eine wissenschaftlich fundierte Patientenversorgung den Namen „evidenzbasierte Medizin“. Inzwischen hat sich diese Lehre in der westlichen Welt auf breiter Basis durchgesetzt und sogar den Weg in deutsche Gesetze gefunden. Sie gilt auch für das Robert-Koch-Institut und die ihm angegliederte Ständige Impfkommission.

    Keiner verteidigt das Prinzip so eisern wie Stiko-Chef Thomas Mertens. „Die Stiko-Empfehlungen entstehen nicht durch Meinungsaustausch von Experten beim Kaffee“, betont der Ulmer Medizinprofessor. Das wäre „eminenzbasiert“ spottet Mertens. Die Empfehlungen entstünden viel mehr „durch sehr gründliche Analyse aller verfügbaren Daten und Erkenntnisse evidenzbasiert“. An den Empfehlungen arbeiten auch nicht nur die 18 Mitglieder der Impfkommission auf Basis zahlreicher aktueller Studien anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Bevor eine Entscheidung veröffentlicht wird, gehen die Empfehlungen zusätzlich noch in den Umlauf an andere wissenschaftliche und medizinische Expertenrunden zur Stellungnahme.

    Stiko-Chef Mertens warnt vor Chaos ohne wissenschaftliche Begründbarkeit

    Wichtig sei es, am Ende zu einer wissenschaftlich begründbaren Stellungnahme zu kommen, sagt Mertens. „Ich glaube, dass unsere Bevölkerung ein Recht genau darauf hat und auch etwas längerfristig besser damit bedient ist“, betont er. „Wenn wir alle einmal anfangen, Empfehlungen auf Zuruf zu geben, dann beginnt das Chaos erst recht, denn dann kann irgendwann nichts mehr begründet werden.“

    Die Kehrseite des zeitaufwendigen Verfahrens ist, dass die Stiko-Empfehlungen unter dem Druck hoher Infektionszahlen den politischen Entscheidungen oft hinterherhinken. Doch gerade viele Allgemeinmediziner verlassen sich seit Jahren auf die Stiko. Früher ging es oft um Haftungsfragen. Beim Streitthema Corona geht es heute vielen um die evidenzbasierte Medizin.

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