Millionen von Briten hatten auf ein paar Tage im Kreise ihrer Liebsten gehofft. Was am Wochenende dann aber folgte, war Verzweiflung, Traurigkeit, Chaos und Enttäuschung. Die britische Regierung ließ kurzfristig die sogenannte "Weihnachtsblase" platzen.
Erst am Mittwoch hatte Premierminister Boris Johnson auf die Opposition geschimpft, dass diese mit ihrer Forderung nach härteren Beschränkungen Weihnachten absagen wolle. Nun übernahm das der Regierungschef in einer erneuten Kehrtwende selbst. Am Samstagabend verschärfte Johnson den Lockdown und sorgte damit für Krisenstimmung auf der Insel.
Coronavirus-Mutation in England: Boris Johnson sagt Weihnachten ab
Sechs Tage, bevor die Briten am 25. Dezember, dem "Christmas Day", traditionell Weihnachten feiern, verhängte der Konservative für rund 16,4 Millionen Menschen in London und im Südosten Englands eine Ausgangssperre. Rund ein Drittel der Bevölkerung darf damit seit dem gestrigen Sonntag nur noch aus wichtigen Gründen das eigene Zuhause verlassen, etwa um zum Arzt zu gehen.
Anders als in Deutschland dürfen die Briten keine Angehörigen eines anderen Haushaltes mehr treffen – auch nicht während der Feiertage. Bis auf Geschäfte, die lebensnotwendige Produkte verkaufen, hat alles bis auf Weiteres geschlossen. Es gilt zudem ein Reiseverbot für Einwohner unter der neuen Corona-Warnstufe 4. Sie dürfen ihre Region nicht verlassen. "Lost Xmas", das verlorene Weihnachten, titelte der Sunday Mirror gestern in Anlehnung an das berühmte Lied "Last Christmas". In sozialen Netzwerken wünschten sich Nutzer "Merry ChristMESS" – ein Wortspiel mit dem englischen Wort "Mess" (Chaos).
Die drastischen Vorschriften sorgten am Samstagabend für tumultartige Szenen an Londoner Bahnhöfen, als tausende Menschen mit Last-Minute-Aktionen versuchten, noch aus der Metropole zu flüchten. Zahlreiche Menschen holten ihre Verwandten in der Nacht per Auto aus der Hauptstadt ab. Londons Bürgermeister Sadiq Khan zeigte zwar Verständnis für den Shutdown. Zugleich kritisierte er die Regierung, die noch vor wenigen Tagen an den geplanten Weihnachtslockerungen festgehalten hatte.
"Es ist das Hin und Her, das zu so viel Angst, Verzweiflung, Trauer und Enttäuschung führt", sagte Khan der BBC. "Wenn wir unsere Meinung immer wieder ändern, macht es das Leuten wie mir wirklich schwer, die Menschen zu bitten, uns zuzuhören." Seit Wochen drängen führende Wissenschaftler und Mediziner des Landes den Premier, die Beschränkungen zu verschärfen und Lockerungen zu Weihnachten zurückzunehmen, da die Infektionszahlen weiter besorgniserregend steigen. Doch Johnson blieb stur, auch auf Druck in der eigenen konservativen Partei.
Coronavirus mutiert: Was steckt hinter VUI2020/12/01?
Nun zwang ihn das Virus selbst zur Umkehr: Grund für die scharfen Restriktionen sei eine neue Variante des Coronavirus mit dem Namen VUI2020/12/01, erklärte der Premier. Er warnte, diese Mutation sei um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bekannte Form und breite sich rasch aus, weshalb sich zahlreiche Krankenhäuser bereits an ihrer Belastungsgrenze befänden. "Wenn das Virus seine Angriffsmethode ändert, müssen wir unsere Verteidigungsmethode ändern."
Unklar ist allerdings, wie gefährlich die Virus-Variante ist. Das Erbgut der Coronaviren verändert sich laufend, das ist an sich nicht ungewöhnlich. Auch in Südafrika kursiert bereits eine Mutation des Sars-CoV-2-Virus. Entdeckt worden sei die vorerst 501.V2 genannte Variante bei genetischen Untersuchungen von Proben aus verschiedenen Provinzen, sagte der dortige Gesundheitsminister Zweli Mkhize. In Dänemark hatte eine Virus-Mutation bei Nerzen kürzlich für große Verunsicherung gesorgt. Tausende Tiere wurden daraufhin getötet.
Dennoch mahnt die Weltgesundheitsorganisation zur Besonnenheit. "Wir werden die Mitgliedstaaten und die Öffentlichkeit auf dem Laufenden halten, sobald wir mehr über die Merkmale dieser Virusvariante und deren Auswirkungen erfahren." Es werde geraten, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern. An der Schwere der Erkrankung hat die Mutation nichts geändert.
Karl Lauterbach warnt vor einem Corona-Teufelskreis
Gleichwohl sind Mediziner besorgt wegen der wohl deutlich höheren Ansteckungsrate, die das mutierte Virus mit sich bringt. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass Mutationen die Ansteckungsgefahr erhöhen", sagte der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Das ist ein weiterer Grund dafür, dass die zweite Welle nicht so stark werden darf. Je mehr Ansteckungen man zulässt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass noch gefährlichere Mutationen folgen. Das ist quasi ein Teufelskreis: Mehr Ansteckungen führen zu mehr Mutationsgelegenheiten und damit zu mehr Mutationen. Diese wiederum führen zu mehr Ansteckungen. So geht es dann immer weiter."
Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien hält die Entwicklung indes nicht für "wahnsinnig alarmierend". Derzeit wisse man nicht, ob die beobachteten Veränderungen die Eigenschaften des Erregers überhaupt entscheidend verändern. Denkbar sei etwa, dass die derzeitige verstärkte Ausbreitung dieser Virus-Variante letztlich Zufall sei und etwa auf ein Superspreading-Event zurückgehe.
Ersten Analysen britischer Wissenschaftler zufolge verfügt die neue Variante über ungewöhnlich viele genetische Veränderungen, vor allem im Spike-Protein. Dieses Protein benötigt das Virus, um in Zellen einzudringen. Der in Großbritannien eingesetzte Impfstoff des Mainzer Unternehmens Biontech erzeugt eine Immunantwort gegen genau dieses Protein. Deswegen gibt es die Befürchtung, dass der Impfstoff gegen die neue Variante möglicherweise nicht wirkt. Nach Angaben des britischen Premierministers Johnson gibt es aber keine Hinweise darauf.
Deutschland streicht die Flugverbindungen nach Großbritannien
In Europa geht derweil die Sorge vor einem Übergreifen des mutierten Virus um. Die Niederlande preschten vor und untersagten deshalb alle Flüge nach und aus Großbritannien. Das Verbot des Flugverkehrs mit Passagieren aus dem Vereinigten Königreich werde zunächst bis zum 1. Januar gelten, teilte die niederländische Regierung mit. Auch die italienische, die belgische und die österreichische Regierung wollen die Flugverbindungen mit Großbritannien aussetzen, um ein Einschleppen zu verhindern. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach sich sogar für einen Einreisestopp für Passagiere aus Großbritannien, Dänemark und Südafrika aus.
Deutschland zog am frühen Sonntagabend nach: Die Reisemöglichkeiten zwischen und Großbritannien sowie zu Südafrika werden eingeschränkt. Eine entsprechende Regelung werde zur Zeit erarbeitet. Die Bundesregierung stehe dazu auch in Kontakt mit den europäischen Partnern. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Bundeskanzlerin Angela Merkel, EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen und Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, hatten am Mittag die Lage in einem gemeinsamen Telefonat erörtert. Sie wollen ihr Vorgehen koordinieren. (mit dpa)
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