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Corona-Pandemie: Wie die Impfpflicht in Frankreich das Land entzweit

Corona-Pandemie

Wie die Impfpflicht in Frankreich das Land entzweit

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    Bei landesweiten Demonstrationen protestierten auch diese Krankenschwestern gegen die Impfpflicht fürs Pflegepersonal.
    Bei landesweiten Demonstrationen protestierten auch diese Krankenschwestern gegen die Impfpflicht fürs Pflegepersonal. Foto: Michel Euler, AP, dpa

    Eigentlich hatte Christella mit dem Impfen warten wollen, denn sie fühlt sich „überhaupt nicht bereit dafür“. Aber jetzt hat sie sich doch eingereiht in die Schlange vor dem großen, weißen Zelt auf dem Platz vor dem Rathaus von Paris, einem vorübergehend aufgebauten Impfzentrum in prominenter Lage. Hier können sich auch all diejenigen anstellen, die online, bei ihrem Hausarzt oder in der Apotheke keinen Termin mehr bekommen. Christella sagt: „Ich habe keine Wahl.“

    Die 21-Jährige ist sorgfältig geschminkt und trägt trotz hochsommerlicher Temperaturen ein schwarzes Jäckchen aus dickem Stoff. Als junge Frau, die sich zur Krankenschwester ausbilden lässt, gehört sie eigentlich schon lange zu einer priorisierten Gruppe. „Aber ich traue diesem neuen Impfstoff nicht“, sagt sie. „Keiner kennt die Folgen in ein paar Jahren.“

    Impfpflicht lockt bis zu 1000 Menschen zum Impfzentrum in Paris

    Die Impfpflicht für Pflegekräfte in Frankreich, die Präsident Emmanuel Macron bei einer Fernsehansprache vor zwei Wochen angekündigt hat, stört sie gewaltig. „Jeder sollte frei entscheiden dürfen. Okay, wenn es wichtig ist, dass möglichst viele mitmachen, muss man sie eben überzeugen.“ Überzeugt oder nicht, Macrons Rede zeigte Wirkung. Bis zu 1000 Personen kommen jetzt jeden Tag zum Impfzentrum auf dem Rathausplatz. Anderswo sind Termine sogar über Wochen ausgebucht. Allein in den ersten Tagen nach der Ansprache meldeten sich drei Millionen Menschen an.

    „Jeder sollte frei entscheiden dürfen“, sagt die angehende Krankenschwester Christella.
    „Jeder sollte frei entscheiden dürfen“, sagt die angehende Krankenschwester Christella. Foto: Birgit Holzer

    Denn wer an Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen teilnehmen will, benötigt nun einen „Gesundheitspass“ – also entweder einen negativen Test oder den Nachweis der vollständigen Impfung. Ab August gilt dasselbe für alle, die in Frankreich in ein Restaurant oder Café wollen, die Angehörige im Krankenhaus oder Altenheim besuchen, ein Flugzeug oder einen Zug besteigen möchten. Dazu muss man wissen: Ab September werden Corona-Tests auch noch kostenpflichtig. Und ob Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Krankenhäusern, Altenheimen oder Menschen mit Behinderung geimpft sind, wird ab 15. September kontrolliert.

    Wer sich weigert, warnte Gesundheitsminister Olivier Véran schon einmal, „kann nicht mehr arbeiten und wird auch nicht mehr bezahlt“. Als letzten Schritt sieht das Gesetz, das derzeit im Schnellverfahren beschlossen wird, die Kündigung vor.

    Die Impfpflicht, die obligatorisch für Pflegekräfte wird, tritt also de facto für alle im Land ein, die ein wenig Sozialleben haben oder auch nur reisen wollen – und das ausgerechnet in dem Land, das als das impfskeptischste der Welt gilt. Bei einer 2019 veröffentlichten Umfrage unter 140.000 Menschen in 144 Staaten sagte jede dritte Person in Frankreich, sie halte Impfstoffe für unsicher oder unwirksam – in keinem anderen Land war der Anteil der Zweifelnden höher.

    Gesundheitsskandale in Frankreich erschüttern Vertrauen in Impfung

    Soziologinnen und Soziologen machen eine Reihe von Gesundheitsskandalen dafür verantwortlich. Viele Menschen in Frankreich glauben, dass die Politik und Pharmaunternehmen unter einer Decke stecken. Dem Staat insgesamt misstrauen sie auch. Die Errungenschaften von Louis Pasteur, dem Mitbegründer der medizinischen Mikrobiologie und Erfinder der Tollwutimpfung, scheinen oftmals vergessen zu sein.

    Zwar drehte sich im Frühjahr die öffentliche Meinung. Zuletzt sprach sich sogar eine Mehrheit von 58 Prozent für die Impfpflicht für alle aus. Doch das Thema spaltet weiterhin die Bevölkerung. Die beiden Seiten stehen einander feindselig gegenüber. Da half es nicht, dass der ehemalige Gesundheits- und Außenminister Bernard Kouchner, ein Mitgründer von „Ärzte ohne Grenzen“, die Skeptischen zu „Verrätern“ erklärte.

    Demonstranten nehmen in Paris am Trocadero-Platz an einem Protest gegen die Impfpflicht teil.
    Demonstranten nehmen in Paris am Trocadero-Platz an einem Protest gegen die Impfpflicht teil. Foto: Rafael Yaghobzadeh, AP, dpa

    Am vergangenen Wochenende demonstrierten landesweit mehr als 160.000 Menschen gegen die verschärften Corona-Regeln. Es kam zu Ausschreitungen, die Polizei setzte in Paris Tränengas und Wasserwerfer ein. 120.000 Menschen waren bereits eine Woche zuvor auf die Straße gegangen. Sie forderten ein „Nein zu einer Gesundheitsdiktatur“. Darunter waren viele Mitglieder der „Gelbwesten“-Protestbewegung. Manche trugen gelbe Sterne mit der Aufschrift „ungeimpft“, verglichen Emmanuel Macron mit Adolf Hitler und die Impfskeptischen mit verfolgten Jüdinnen und Juden.


    Das entsetzte besonders, da die Proteste auf den 79. Jahrestag der antijüdischen Razzia im Wintervelodrom in Paris („Rafle du Vélodrome d’Hiver“) fielen. Ein Überlebender, Joseph Szwarc, nannte die Vergleiche bei einer Gedenkveranstaltung „schändlich“. „Ich habe den Stern getragen. Ich weiß, wie das ist. Ich trage es in meinem Fleisch“, sagte er. Mehrere Impfzentren wurden zuletzt angegriffen, bei einem der Strom abgestellt. Ob hunderte Impfdosen unbrauchbar wurden, wird noch geprüft.

    Nicht alle Impfskeptiker in Frankreich sind extrem

    Dabei äußern sich nicht alle, die die Impfpflicht ablehnen, extrem. Es schockiere sie einfach, dass ein so grundlegender Eingriff in den Körper quasi verpflichtend werde, sagt Catherine, die es sich auf einer Decke im Parc Floral bei Paris gemütlich gemacht hat, wo gerade ein Jazz-Festival läuft. Demnächst werde sie wohl in keine Ausstellung oder Bar mehr gehen können, sagt die 36-Jährige. Denn sie wünsche sich ein Kind; aber in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten rät die Medizin von einer Impfung ab. Was, wenn sie eine erste Dosis erhalte – und dann schwanger werde?

    „An solche Situationen hat Macron nicht gedacht“, ärgert sich die junge Frau, die Handy-Anwendungen für eine Supermarktkette entwickelt. „Unangenehm wird es im Büro, wo wir mittags gemeinsam ins Restaurant gehen. Ich kann dann nicht mitkommen, aber mag den Kolleginnen und Kollegen den wahren Grund nicht nennen.“ Ihr Lebensgefährte sei auch Impfskeptiker und gegen das „autoritäre Gehabe“ der Regierung, sagt Catherine. „Wir bleiben dann gemeinsam zu Hause.“ Bitter sei das schon, nach all den Monaten des Lockdowns.

    Macron wird auch für die Kehrtwende kritisiert, die er gemacht hat. „Ich glaube nicht an die Pflichtimpfung. Ich glaube an Überzeugungsarbeit“, hatte er am 4. Dezember noch versichert. Diese Position wiederholte er über Monate hinweg – bis zum Umschwung jetzt im Juli. Hauptgrund dafür ist die Delta-Variante, durch die die Ansteckungszahlen wieder in die Höhe schießen. Innerhalb von sieben Tagen nahm die Inzidenz um 125 Prozent zu, warnte Regierungssprecher Gabriel Attal und sprach von einer sehr gefährlichen „vierten Welle“. „Einen so starken, plötzlichen Anstieg haben wir seit Beginn der Epidemie in unserem Land nicht erlebt.“ Attal hat seinen Landsleuten Anfang des Monats versprochen, dass im Sommer „der Impfstoff zu Ihnen kommt“. Dafür gebe es Einrichtungen an Stränden, in Einkaufsgalerien, an Autobahnen. Man setzte auf Anreize, da die Zahl der täglichen Injektionen seit einigen Wochen abnahm – bis zu Macrons Rede.

    Nur zwei Drittel der Krankenpfleger sind in Frankreich geimpft

    Vor allem besorgte es die Regierung, dass sich bis dahin relativ wenige Beschäftigte im Gesundheitssektor hatten impfen lassen. Verfügen inzwischen fast alle Ärztinnen und Ärzte über den vollen Impfschutz, so hatten laut dem Gesundheitsministerium bis Mitte Juli nur zwei Drittel der Krankenschwestern und -pfleger eine erste Dosis erhalten. Bei den Angestellten in Altenheimen waren es 55 Prozent und damit kaum mehr als in der Gesamtbevölkerung.

    Auch Hausaärzte impfen gegen das Virus.
    Auch Hausaärzte impfen gegen das Virus. Foto: Christoph Schmidt, dpa

    Dass sie nun gezwungen werden, erschüttert viele der Betroffenen, die anonym bleiben wollen – ihr Job steht auf dem Spiel. „Es kommt nicht infrage, dass ich mich impfen lasse, weil ich um meine Gesundheit fürchte“, sagte eine Krankenschwester der Zeitung Le Parisien. Sie werde kündigen. Eine Pflegerin sagte, sie übe ihren Beruf aus Überzeugung aus – so wie ihre Kolleginnen und Kollegen. „Es ist ein harter Beruf, schlecht bezahlt, dem es an Leuten fehlt. Die Impfpflicht wird noch mehr Arbeitskräfte verjagen.“

    Im ersten Lockdown gingen die Menschen in Frankreich jeden Abend um 20 Uhr an ihre Fenster oder auf ihre Balkone, um dem bis zum Anschlag arbeitenden Krankenhauspersonal zu applaudieren. Auf die Heldinnen und Helden von gestern zeige man heute missbilligend mit dem Finger, klagen sie.

    Impfpflicht als Ausweg aus der Pandemie?

    Denis Fischer, Vizepräsident der nationalen Vereinigung von Pflegekräften, sagt, diese positioniere sich klar für das Impfen als den einzigen Ausweg aus der Pandemie. Aber: „Wir sind für die Verpflichtung, doch gegen Drohungen.“ Er finde es bedauerlich, dass Macron gleich von Sanktionen sprach.

    Wird es jetzt zu einer Kündigungswelle in den französischen Krankenhäusern und Pflegeheimen kommen, die ohnehin unter Personalmangel leiden? Bisher sieht nichts danach aus, sagt Florence Arnaiz-Maumé, Generalsekretärin von Synerpa, einer Gewerkschaft der privaten Altenheime. Das sei nur Angeberei in den sozialen Netzwerken: „Wenn man Kinder hat und Rechnungen zu bezahlen, beschließt man nicht von heute auf morgen, alles hinzuwerfen.“

    In Wahrheit klagen viele nun über Probleme, einen Impftermin zu bekommen. Manche finden sich, wie Christella, im Impfzentrum vor dem Pariser Rathaus wieder, einem der wenigen Orte, wo man auch spontan hingehen kann. Die angehende Krankenschwester ist jedoch zu spät dran. Die Dosen sind für diesen Tag aus.

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