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Corona-Pandemie: Wie das Virus die Arbeit der EU zum Erliegen gebracht hat

Corona-Pandemie

Wie das Virus die Arbeit der EU zum Erliegen gebracht hat

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    Gähnende Leere im Europäischen Parlament: Die wenigen Abgeordneten bekamen am Donnerstag allerdings eine bewegende Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) zu hören.
    Gähnende Leere im Europäischen Parlament: Die wenigen Abgeordneten bekamen am Donnerstag allerdings eine bewegende Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (rechts) zu hören. Foto: Laurie Diffembacq/Europäisches Parlament, dpa

    Es ist eine bewegende Rede, die am Donnerstagmorgen in diesem unglaublich leeren Saal in Brüssel zu hören ist. Weil nicht nur der Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg so riesig ist, sondern auch der zweite in Belgiens Hauptstadt, fällt die Leere noch mehr ins Gewicht. „Wir versprechen, uns an alle zu erinnern“, sagt also Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, in die spärlich besetzten Ränge hinein. Gemeint sind die Opfer des Coronavirus und die Helden des Alltags.

    Sie nennt unter anderem Gino, den italienischen Arzt, der aus dem Ruhestand zurückkehrte, um zu helfen – und selbst starb. Und als Hoffnungszeichen den siebenjährigen griechischen Piano-Schüler, der einen Überlebenswalzer komponierte. Von der Leyen bekennt aber auch: „Es stimmt, dass wir am Anfang der Krise nicht genügend für Italien da waren, um zu helfen. Dafür müssen wir uns entschuldigen.“

    Das sind große Worte. Doch nur wenige Volksvertreter sitzt in diesem Moment im Plenum, die übrigen sind zu Hause im Homeoffice vor dem Computer. Mehr Abgeordnete konnten nicht anreisen, viele von ihnen hätten nicht wieder ausreisen dürfen.

    Die Auszählung der Stimmen dauert einen Tag und eine Nacht

    Europa ist im Krisenmodus. Entsprechend läuft auch in seinem Parlament so vieles anders als sonst. Im Laufe des Tages stimmen die Abgeordneten beispielsweise über eine Vorlage für mehr Zusammenarbeit und Zusammenhalt der 27 Mitgliedstaaten ab. Doch allein die Auszählung der Stimmen dauert – der Umstände wegen – bis zu diesem Freitagmorgen.

    Videokonferenzen sind an die Stelle gemeinsamer Beratungen getreten – und können doch das persönliche Gespräch nicht ersetzen, wie ein ranghoher EU-Diplomat nach einem Online-Treffen der Staats- und Regierungschefs feststellte. Die Institutionen bemühen sich zwar, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Aber es gelingt ihnen nur bruchstückhaft.

    Am Freitag vergangener Woche flohen viele noch verbliebene Deutsche in die Heimat. Mietwagen waren plötzlich nicht mehr zu bekommen. Die Nachricht, dass jeder Heimkehrer von den deutschen Behörden für zwei Wochen in Quarantäne gesteckt würde, machte die Runde. Dabei sind Diplomaten wie Abgeordnete, Geschäftsleute und Pendler davon ausgenommen. Aber die Unruhe ist groß, die Verunsicherung noch mehr.

    Denn sobald die Volksvertreter ihren geschützten Parlamentsbau verlassen, stehen sie in einem Land mit zehn Millionen Einwohnern, in dem bis Donnerstag rund 35.000 Menschen mit dem Virus infiziert waren. Annähernd 5000 Todesopfer – deutlich mehr als im achtmal größeren Deutschland – habe es bislang gegeben, heißt es bei der Johns-Hopkins-Universität. Genau weiß das niemand, weil zumindest zeitweise die in den Alten- und Pflegeheimen Verstorbenen nicht mitgerechnet wurden. Oder doch?

    Die Parlaments-Küche kocht jetzt für Obdachlose

    Draußen stehen Polizisten und Soldaten, die Kontrollen sind scharf. Belgiens Ausgangssperre wurde zwar am Mittwoch ein wenig gelockert. Trotzdem wagen sich nur wenige vor die Tür. Das Europäische Parlament hat ein ganzes Gebäude geräumt und für medizinische Untersuchungen bereitgestellt. Die Kantine des Hohen Hauses kocht jeden Tag bis zu 1000 Mahlzeiten für Obdachlose, Bedürftige und Gesundheitshelfer. Präsident David Sassoli nannte das ein „gutes Beispiel für den Gemeinschaftssinn des Parlamentes“.

    Dass die europäische Volksvertretung seit Wochen nur in Brüssel arbeitet, wird schon gar nicht mehr registriert. Eigentlich verpflichten die Verträge die Abgeordneten, eine Woche pro Monat nach Straßburg zu fahren. Jeder politische Versuch, diesen „Wanderzirkus“ zu beenden, scheiterte über 50 Jahre lang am Veto der französischen Staatspräsidenten. Das Virus hat keinen Sinn für historische Hinterlassenschaften. Straßburg ist ausgesetzt. Niemand weiß, wie lange.

    Alle Institutionen sind weitgehend geschlossen. Kommissionspräsidentin von der Leyen kommt seit Wochen nicht aus dem Berlaymont, dem eigentlichen Sitz der wichtigsten EU-Behörde, heraus. Sie arbeitet dort, sie lebt gleich neben ihrem Büro in einem eigens umgebauten kleinen Wohnbereich.

    Wie lange diese Corona-Realität anhalten wird, vermag derzeit niemand zu sagen. Die Verwerfungen dürften wohl noch lange zu spüren sein. In einigen Wochen, am 1. Juli, übernimmt Deutschland die halbjährlich wechselnde Ratspräsidentschaft der EU. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich viel vorgenommen. Europa sollte einen neuen Schub bekommen, sobald die mittelfristige Finanzplanung für 2021 bis 2027 endlich steht. Der Green Deal, also das europäische Klimaprogramm, und die Digitalisierung sollten die Union nach vorne bringen. Inzwischen zeichnet sich ab, dass „unsere

    Dieser Satz stammt aus einem Brandbrief des deutschen EU-Botschafters Michael Clauß, aus dem der Spiegel ausführlich zitierte. In den Vordergrund rücke „die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen, Krisenmanagement, Exit und Wiederaufbau“, heißt es weiter. Einschränkungen im Reiseverkehr und Social-Distance-Regeln werden „noch weit in unsere Ratspräsidentschaft hineinreichen“.

    Von 21 Sitzungssälen können derzeit nur fünf genutzt werden

    Das sind keine Floskeln, sie haben konkrete Auswirkungen. Im Europa-Haus, in dem alle Top-Gremien der EU tagen, stehen zwar 21 Sitzungssäle zur Verfügung, von denen derzeit aber nur fünf genutzt werden können. Das Ratssekretariat hat die Deutschen wissen lassen, dass man mit „nur einer Videokonferenz pro Tag“ planen solle. Mehr gibt die Technik nicht her – und selbst diese eine Videoleitung kann nicht verschlüsselt werden.

    Für vertrauliche Themen ist das eine Katastrophe. Die deutsche Ratspräsidentschaft müsse wohl ihren Sitzungskalender neu stricken, heißt es. Hinzu kommt: Ob die vielen Großveranstaltungen am Rande der diversen Treffen im Rahmen der Ratspräsidentschaft nach dem 31. August, wenn das bisherige Verbot ausläuft, abgehalten werden können, erscheint höchst fraglich. Dabei sind die in Brüssel so häufigen parallelen Tagungen zu wichtigen Themen noch gar nicht berücksichtigt. So muss beispielsweise noch ein Abkommen mit Großbritannien über die beiderseitigen Beziehungen ausgehandelt werden.

    Auch Belgien ist stark vom Coronavirus betroffen. Hier besucht König Philippe eine provisorische Nähwerkstatt innerhalb eines Krankenhauses, in der Freiwillige Masken und Schutzanzüge anfertigen.
    Auch Belgien ist stark vom Coronavirus betroffen. Hier besucht König Philippe eine provisorische Nähwerkstatt innerhalb eines Krankenhauses, in der Freiwillige Masken und Schutzanzüge anfertigen. Foto: Didier Lebrun/Belga, dpa

    Die belgischen Sicherheitsbehörden dürften über die Probleme froh sein. Wenn sie zusätzlich zu den Einschränkungen für die eigene Bevölkerung auch noch den wuseligen Betrieb im europäischen Viertel und – nicht zu vergessen – draußen am Stadtrand bei der Nato mit ihren 4000 Mitarbeitern überwachen müssten, wären sie wohl überfordert. Das ist schon an normalen Tagen nur grenzwertig möglich.

    Auch beim Bündnis hat man den Betrieb heruntergefahren. Lediglich knapp 1000 Mitarbeiter verlieren sich gerade in dem futuristischen Gebäude der mächtigsten Militär-Kooperation der Welt. Organisiert werden hier vor allem Hilfseinsätze. Die Hubschrauber und fliegenden Kliniken mehrerer Mitgliedstaaten transportieren derzeit keine Truppen, sondern Patienten aus Italien und Frankreich nach Deutschland oder medizinische Hilfsgeräte und Schutzausrüstungen aus Dänemark, Tschechien und der Bundesrepublik in die südlichen Mitgliedstaaten.

    Generalsekretär Jens Stoltenberg wird nicht müde, die Einsatzbereitschaft der Truppen zu betonen. Allerdings hat man auch im militärischen Hauptquartier Shape bei Mons den Betrieb heruntergefahren.

    Selbst die Büros der EU-Lobbyisten sind verwaist 

    Dessen oberste Krisenmanagerin heißt Sophie Wilmès, eine 45-jährige belgische Liberale. Sie wurde geschäftsführende Premierministerin, weil es niemand anderen gab. Die Parteien haben sich nach der Wahl im Mai 2019 immer noch nicht auf ein Kabinett einigen können. Deshalb erweiterte das Parlament als Notmaßnahme die Kompetenzen der Regierungschefin, um wenigstens die für den Krisenfall nötigen Entscheidungen treffen zu können.

    Das gelingt erstaunlich gut, passt aber zum Chaos, welches das Virus angerichtet hat. Abends mutiert die Metropole zur Geisterstadt. Das EU-Viertel, wo sich in der Frühjahrssonne normalerweise die Politiker mit ihren Gesprächspartnern treffen, ist regelrecht tot. Die meisten Lobbyisten-Büros sind verwaist. Niemand weiß bisher, wie und wann der Betrieb wieder anlaufen könnte. Ob ein unter solchen Umständen zustande gekommener Gesetzgebungsprozess rechtlich unanfechtbar bleibt? Die Juristen des Parlaments haben tagelang hin- und herüberlegt, wie man Abstimmungen eigentlich digital abhalten kann, damit sie unzweifelhaft gültig sind.

    Am Ende verständigte man sich auf ein Verfahren, das etliche Volksvertreter in große Schwierigkeiten stürzt. Denn zum Abschluss der Debatte am Donnerstag, die natürlich keine ist, weil jede Fraktion nur eine Handvoll Abgeordneter ins Plenum entsenden konnte, erhalten alle per Mail einen Stimmzettel. Der muss ausgedruckt, mit dem Votum versehen, unterschrieben, eingescannt und wieder zurückgemailt werden. Die EU-Institutionen waren bisher stets stolz darauf, weitgehend papierlos zu arbeiten. Deshalb gab es Politiker, die in ihren Homeoffices zunächst keine Drucker griffbereit hatten.

    „Das wahre Europa steht auf, das Europa, das füreinander da ist, wenn es am dringendsten gebraucht wird“, sagt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor den überwiegend leeren Reihen. Aber sie weiß auch: Es wird noch dauern, bis der Apparat wieder angelaufen ist und das Herz der Gemeinschaft im normalen Rhythmus schlägt.

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