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Corona-Pandemie: Wie Deutschland jetzt den Impfturbo aktivieren kann

Corona-Pandemie

Wie Deutschland jetzt den Impfturbo aktivieren kann

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    Experten fordern, die Impfungen in Deutschland anders zu organisieren.
    Experten fordern, die Impfungen in Deutschland anders zu organisieren. Foto: Alexander Kaya (Symbolbild)

    Im Saarland arbeitet bereits das erste Impfzentrum rund um die Uhr: Die Bundeswehr im saarländischen Lebach ermöglicht im Drei-Schicht-Betrieb bis zu tausend Impfungen pro Tag. In Nordrhein-Westfalen wurden über Ostern binnen weniger Stunden 369.000 Impftermine an über 60-Jährige vergeben, nachdem der Impfstoff für AstraZeneca nun nur noch für diese Altersgruppe empfohlen wird. Die Zahl der geimpften Bundesbürger stieg über Ostern über die Marke von zehn Millionen. Langsam, so scheint es, nimmt die deutsche Impfkampagne an Fahrt auf.

    Der Grund ist die immer weiter hochlaufende Impfstoffproduktion. Allein im April wird die Lieferung von drei bis vier Millionen Impfdosen pro Woche erwartet. Das wäre in einem Monat so viel, wie im ersten Quartal seit Impfstart insgesamt geliefert wurde. Als vor Monaten Politiker aus Opposition und auch aus dem Regierungslager einen „Impfturbo“ forderten, klang dies angesichts der Mangelverwaltung ziemlich wohlfeil. Doch jetzt im zweiten Quartal werden bis Ende Juni 60 Millionen Impfdosen von Biontech, Moderna und AstraZeneca erwartet. Plus weitere zehn Millionen des Impfstoffes von Johnson & Johnson, bei dem nur eine Impfung mit einer Einzeldosis nötig ist.

    Impfexperte fordert Politik zum Strategiewechsel auf

    „Mit den erwarteten Lieferungen im jetzt begonnenen zweiten Quartal besteht jetzt wirklich die Möglichkeit für einen Impfturbo“, sagt der Impfexperte Carsten Watzl. Der Dortmunder Professor ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie und wirbt wie viele Experten angesichts der sich immer weiter ausbreitenden hochansteckenden und tödlicheren britischen Coronavirus-Variante dafür, jetzt Deutschlands Impfstrategie zu ändern. „Wir müssen den Impfturbo angesichts der dritten Welle jetzt einschalten“, fordert Watzl.

    Kern der neuen Strategie müsse es sein, schnellstmöglich allen Bundesbürgern eine Erstimpfung anzubieten. Vorbild ist dabei Großbritannien. „Die Briten haben es durch den starken Fokus auf die Erstimpfung geschafft, einem Großteil ihrer Bevölkerung den ersten Schutz zu geben“, sagt Watzl. Damit konnten die Briten zusammen mit dem seit Monaten währenden harten Lockdown die Todesfälle und die Zahl der Intensivpatienten erheblich senken, da die Erstimpfung mehrere Monate lang sehr hohen Schutz vor schweren Krankheitsverläufen biete. „Weil die Briten bei den Impfungen weiter sind, können sie jetzt die ersten Öffnungsschritte trotz der Virusmutante wagen“, sagt Watzl.

    Die deutsche Corona-Impfkampagne hinkt bislang hinterher

    Deutschland steht dagegen vor einer neuerlichen Verschärfung des im Prinzip seit November währenden Lockdowns. Die dritte Welle durch die britische Virusmutation lässt die Intensivpatienten-Zahlen steil nach oben schießen, schon jetzt sind sie so hoch wie im Advent. Seriöse Prognosen sagen voraus, dass sie am Ende viermal so hoch sein könnten wie zum Jahreswechsel. Dies würde das deutsche Klinikwesen an den Rand des Kollaps bringen, falls der gegenwärtige Lockdown nicht wieder verschärft wird. Die Krise liegt zum Teil auch an der deutschen Impfstrategie, die derzeit der pünktlichen Zweitimpfung Priorität vor der schützenden Erstimpfung einräumt. „Deutschland hat inzwischen zwar mehr Zweitgeimpfte als Großbritannien, aber zugleich nur ein Drittel der Erstgeimpften wie bei den Briten“, sagt Experte Watzl. „Das ist der entscheidende Unterschied.“

    In dieser Reihenfolge wird in Deutschland gegen Corona geimpft

    Die Reihenfolge der Impfungen ist in einer Verordnung des Gesundheitsministeriums festgelegt.

    Zunächst sollen Menschen an die Reihe kommen, die unter "höchste Priorität" eingestuft sind. Dazu gehören Bürgerinnen und Bürger, die älter als 80 Jahre sind, ...

    ...genauso wie Menschen, die in Pflegeheimen betreut werden oder dort arbeiten.

    Auch Pflegekräfte in ambulanten Diensten und Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen mit erhöhtem Expositionsrisiko gehören dazu. Darunter fallen: Mitarbeiter in Corona-Impfzentren, Notaufnahmen oder Intensivstationen.

    "Höchste Priorität" haben außerdem Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen, die Risikogruppen behandeln. Darunter ist zum Beispiel die Transplantationsmedizin gelistet.

    Als nächstes sollen Menschen geimpft werden, die unter "hohe Priorität" kategorisiert sind. In erster Linie sind das jene, die über 70 Jahre alt sind.

    Auch wer bestimmte Erkrankungen oder Behinderungen aufweist, fällt in diese Kategorie. Dazu gehören Trisomie 21 und Demenz. Auch wer eine Organtransplantation hatte, wird mit hoher Priorität geimpft.

    Es genügt außerdem, Kontaktperson von Menschen in Risikogruppen zu sein, um mit hoher Priorität geimpft zu werden werden. Dazu gehören enge Kontaktpersonen von Menschen über 80, von Schwangeren oder Bewohnern von Pflegeheimen. Auch Personen, die in Einrichtungen für Senioren oder für Menschen mit geistiger Behinderung leben, sollen mit hoher Priorität geimpft werden. Außerdem fallen Pflegerinnen und Pfleger, die Menschen mit Behinderung stationär oder ambulant betreuen, in diese Kategorie.

    Auch bestimmte Berufsgruppen sollen schnell an die Reihe kommen. Vor allem solche, die in der Öffentlichkeit aktiv sind und viel Kontakt zu Bürgern haben. Dazu gehören Polizisten und Ordnungskräfte, die auf Demonstrationen unterwegs sind, sowie Mitarbeiter in Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünften oder Krankenhäusern.

    Als dritte Kategorie definiert das Gesundheitsministerium Menschen mit "erhöhter Priorität". Dazu gehört die Altersgruppe zwischen 60 und 70 Jahren.

    Außerdem sollen dann Menschen geimpft werden, die zwar in medizinischen Berufen arbeiten, aber einem niedrigerem Expositionsrisko ausgesetzt sind. Dazu gehören Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Laboren.

    Erhöhte Priorität haben auch Menschen mit folgenden Krankheiten: Adipositas, chronische Nierenerkrankung, chronische Lebererkrankung, Immundefizienz oder HIV-Infektion, Diabetes mellitus, diversen Herzerkrankungen, Schlaganfall, Krebs, COPD oder Asthma, Autoimmunerkrankungen und Rheuma.

    Auch bestimmte Berufsgruppen fallen in diese Kategorie. Darunter Lehrer und Erzieher, Polizisten, Regierungsmitarbeiter, Verwaltungsangestellte, Feuerwehrmänner und -frauen, Katastrophenschutz, THW oder Justiz.

    Erhöhte Priorität haben außerdem Menschen, die in kritischer Infrastruktur arbeiten. Dazu gehören Apotheken und Pharmawirtschaft, öffentliche Versorgung und Entsorgung, Ernährungswirtschaft, Transportwesen, Informationstechnik und Telekommunikation.

    Auch Personen mit prekären Arbeits- oder Lebensbedingungen werden mit erhöhter Priorität geimpft.

    Wer nicht in eine dieser drei Kategorien fällt, wird ohne Priorität geimpft. Also erst dann, wenn Menschen aus diesen Kategorien an der Reihe waren.

    Laut dem Prognosemodell des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland könnten bei einem Strategiewechsel schon bis Ende Mai alle Bundesbürger, die es wünschen, den wichtigen ersten Impfschutz erhalten. Dabei ist eine Impfbereitschaft von 75 Prozent, Vollbetrieb in Impfzentren und Arztpraxen sowie sicherer Nachschub der Produzenten zugrunde gelegt. Selbst wenn wie im ersten Quartal nur 86 Prozent der erwarteten Menge geliefert wird, würde die Massenerstimpfung nur eine Woche länger dauern. Watzl hält die Rechenmodelle für realistisch: „Das ist genau der Impfturbo, den Deutschland jetzt bräuchte“, sagt er. „Die Hoffnung ist, dass im Sommer alles besser wird. Aber das kommt nicht von allein. Das kommt nur, wenn man jetzt den Impfturbo einschaltet.“

    Dazu gehört für den Experten, die deutsche Praxis zu beenden, Impfdosen für die Zweitimpfung auf Vorrat zu lagern. „Die Praxis wird von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt. Hier müsste tatsächlich vom Bund die Ansage kommen, dass Impfdosen nicht mehr zurückgelegt werden.“ Bislang hätten viele Zentren Angst, Termine für Zweitimpfungen nicht einhalten zu können. Zudem müsse der Abstand zwischen Erst- und Zweitimpfung auf mindestens sechs Wochen ausgedehnt werden, wie es inzwischen auch von offizieller Seite empfohlen wird, sagt Watzl. „Die neue Empfehlung der Ständigen Impfkommission enthält eine Modellrechnung, die klar besagt, dass mit einer Verlängerung des Impfungsabstandes und dem Verzicht auf die Zurücklegung eines Impfdosenvorrats über einhundert Menschenleben gerettet werden können“, betont der Immunologe.

    SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach fordert härteren Lockdown

    Noch weiter geht der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach zusammen mit mehreren weiteren Wissenschaftlern. Sie fordern, bei Biontech und Moderna den Impfabstand auf zwölf Wochen auszudehnen. „Durch eine Umstellung der Impfstrategie auf Erstimpfungen könnte man laut unseren Modellrechnungen in den kommenden Monaten weit über 10.000 Menschenleben retten und sehr viele Menschen vor Langzeitfolgen schwerer Corona-Erkrankungen schützen“, sagt Lauterbach, der an einer entsprechenden Studie der Pandemie-Modellrechner Dirk Brockmann, Benjamin Maier und Michael Meyer-Hermann als Epidemiologe mitgewirkt hat.

    Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, fordert einen "letzten harten Lockdown".
    Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, fordert einen "letzten harten Lockdown". Foto: Kay Nietfeld, dpa

    „Bis Juli könnten über 60 Millionen Menschen in Deutschland die Erstimpfung haben“, sagt Lauterbach. „Damit könnten wir deutlich entspannter in den Sommer gehen, auch wenn es uns nicht davor bewahrt, dass wir jetzt einen dritten harten Lockdown brauchen“, fügt er hinzu. „Härter als bislang bedeutet, Ausgangssperren am Abend und Schulunterricht nur für die Schüler, die zweimal in der Woche getestet werden und dazu bereit sind“, erklärt der SPD-Politiker, der zudem nach Ostern eine Homeoffice-Pflicht und eine Testpflicht in den Betrieben fordert. Doch dieser Lockdown, so sagt Lauterbach, wäre denn auch der letzte: „Wenn wir jetzt unsere Strategie wechseln und auf möglichst viele Erstimpfungen ausrichten, wird kein vierter Lockdown mehr nötig sein.“

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