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Corona-Pandemie: Welchen Inzidenzwert können wir uns leisten?

Corona-Pandemie

Welchen Inzidenzwert können wir uns leisten?

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    Ein Schild weist den Weg zu einem Testzentrum in der Lüneburger Innenstadt.
    Ein Schild weist den Weg zu einem Testzentrum in der Lüneburger Innenstadt. Foto: Philipp Schulze, dpa

    Wer in die Zukunft blicken will, greift derzeit nicht zur Glaskugel, sondern schaut über den Ärmelkanal in Richtung Großbritannien. Dort hat die Regierung ein Experiment gestartet, das zwar höchst umstritten ist – aber das doch zumindest eine Ahnung davon geben könnte, wie sich die Corona-Pandemie auch in anderen Ländern entwickelt. Rund um den „Freedom Day“, den „Tag der Freiheit“, an dem fast alle Covid-Regeln außer Kraft gesetzt wurden, stieg dort die Zahl der Neuinfektionen zunächst dramatisch an. Und das trotz guter Impffortschritte. Von einem langfristigen und breiten Rückgang ist dort nicht auszugehen, weswegen es - Stand jetzt - für Großbritannien auch noch keine Entwarnung geben kann. Je steiler die Kurve in England wurde, umso größer werden die Sorgen in Deutschland: der Inzidenzwert wächst auch zwischen Alpen und Nordsee – noch langsam.

    Doch nimmt man die derzeitigen Wachstumszahlen als Grundlage für eine (rein theoretische) Modell-Rechnung, wird klar, dass dies nicht so bleiben muss. Die Infektionszahlen steigen derzeit in Deutschland jede Woche um 60 Prozent. Bis Ende September könnte es also 100.000 Neuinfektionen pro Tag und eine Sieben-Tage-Inzidenz von 850 geben: Das wäre ein Mehrfaches des bisherigen Höchstwertes von etwa 30.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden Mitte Dezember. Wie schnell es gehen kann, bewiesen neben Großbritannien unter anderem Spanien und die Niederlande. Beide Länder bewegen sich bei einem Inzidenzwert um die 400. In den Niederlanden hat sich die Regierung inzwischen entschlossen, die Notbremse zu ziehen und Lockerungen rückgängig zu machen, seither sinken die Werte. Auch in Israel, dem einstigen Corona-Wunderkind, steigt die Zahl der Neuinfektionen weiter deutlich an: Das Gesundheitsministerium meldete am Dienstag 2112 Fälle - so viele wie seit Mitte März nicht mehr.

    Die Entwicklung in Großbritannien lässt sich nicht eins zu eins übertragen

    Wie sich die Entwicklungen im Ausland auf Deutschland übertragen lassen, ist bislang mit großen Unsicherheiten behaftet. Auch das verdeutlicht das Beispiel Großbritannien. Dort dürfte der starke Anstieg der Fallzahlen nicht nur mit dem Auslaufen der Corona-Einschränkungen zu tun haben, sondern auch mit der Fußball-Europameisterschaft als Pandemie-Treiber. Darauf deutet hin, dass es vor allem Männer waren, die sich zuletzt mit dem Virus angesteckt haben und dass die Zahlen inzwischen wieder sinken. Hinzu kommt: Zwar sind viele Britinnen und Briten geimpft, allerdings fast alle mit dem Wirkstoff von AstraZeneca, der vor der Delta-Variante weniger gut schützt als der Impfstoff von Biontech. In Deutschland aber liegt

    Allen Unwägbarkeiten zum Trotz - bei einem sind sich die meisten Experten sicher: Ausbleiben wird die vierte Welle in Deutschland nicht. Und doch wird sie anders verlaufen als die drei vorherigen. Denn: Eine Inzidenz von 100 heute ist nicht vergleichbar mit einer Inzidenz von 100 im Frühjahr. Das hat gleich mehrere Gründe. Erstens: Die gestiegene Impfquote sorgt dafür, dass sich weniger Mitglieder aus den Risikogruppen infizieren und dadurch sowohl die Belastung der Kliniken als auch die Todeszahlen beherrschbar bleiben. Zweitens: Die Medizin hat dazugelernt. In der ersten Welle war der Prozentsatz der Patientinnen und Patienten, die ins Krankenhaus eingewiesen wurden, deutlich höher als in der dritten Welle – bei einer Inzidenz von 40 waren es im Frühjahr 2020 21 Prozent der positiv Getesteten, im Frühjahr 2021 waren es bei einer Inzidenz von 300 nur noch 8 Prozent der positiv Getesteten. Doch selbst mit diesem Wert liegt Deutschland weit vor vielen anderen europäischen Staaten, dies hat allerdings „Tradition“: Auch bei anderen Krankheiten landen Patientinnen und Patienten hier schneller in der Klinik als etwa in Dänemark oder Frankreich. Drittens: Diejenigen, die sich infizieren, sind meist Jüngere und daher weniger anfällig für schwere Verläufe.

    Die Regierung warnt bereits jetzt vor neuen Corona-Regeln

    Doch was heißt das? Welche Inzidenz werden wir uns künftig „leisten“ können? Auf eine feste Zahl mag sich derzeit weder die Politik noch die Wissenschaft festlegen. „200 ist das neue 50“, hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kürzlich salopp formuliert. Der Inzidenzwert von 50 war der Punkt, an dem noch die Länder per Verordnung die Maßnahmen bestimmen konnten. Ab einem Wert von 100 trat die Bundesnotbremse in Kraft, die Ende Juni ausgelaufen ist. In Großbritannien weigert sich Premierminister Boris Johnson trotz hoher Inzidenzen die Zügel wieder anzuziehen. In Deutschland hingegen warnt die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmler bereits jetzt, wenn auch noch abstrakt: „Wenn sich diese Entwicklung so fortsetzt, müssen wir zusätzliche Maßnahmen ergreifen.“ Am 10. August wollen sich die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin beraten.

    Spätestens dann wird es auch wieder ganz grundsätzlich um die Aussagekraft des vieldiskutierten Inzidenzwertes gehen. Das Robert Koch-Institut erarbeitet gerade eine neue Berechnungsweise für die Schwere der Pandemie. Sie soll Impffortschritt und Sieben-Tage-Inzidenz unter einen Hut bringen – ganz davon verabschieden will sich das RKI nicht. In der Schweiz ist man inzwischen dazu übergegangen, die Zahl der Krankenhaus-Neueinweisungen als Richtwert zu nehmen, um staatliche Eingriffe zu planen. Erst wenn mehr als 120 Menschen pro Tag in die Kliniken eingeliefert werden, sollen die Regeln wieder strenger werden. Auf Deutschland übertragen hieße das 1200 Krankenhaus-Patientinnen und -Patienten pro Tag beziehungsweise 8400 pro Woche. Zum Jahresende 2020 hatte der Wert schon einmal bei 14.000 gelegen. Ohnehin stehen Inzidenzwert und die Quote der Hospitalisierungen, das heißt der Krankenhauseinweisungen im trotz der veränderten Lage im Zusammenhang. Zur aktuellen Lage heißt es in dem

    Warum es nicht nur auf die Krankenhaus-Einweisungen ankommt

    In einem Bericht warnen Forscherinnen und Forscher rund um die Göttinger Modelliererin Viola Priesemann zudem davor, den Druck auf die Krankenhäuser zu unterschätzen. Im vergangenen Herbst und Winter ist die Grippesaison in Deutschland nahezu ausgefallen – dank der Masken- und Abstandsregeln. Großraumbüros waren aufgrund des Homeoffice-Gebotes nahezu leergefegt, Kinder und Jugendliche trafen deutlich weniger Gleichaltrige. Das hat die Infektionsrisiken auch für andere Krankheiten reduziert. Würde aber in diesem Jahr aufgrund der gelockerten Regeln (und womöglich eines durch die Isolierung „nachlässiger“ gewordenen Immunsystems) eine Grippe-Welle auf eine Corona-Welle treffen, könnte das im schlimmsten Fall auch die Patientenzahl in den Kliniken nach oben treiben. Die bisher so entspannte Lage in den britischen Krankenhäusern könnte also aufgrund des saisonalen Effekts des Sommers täuschen und sich schnell ändern.

    England feiert seine neu gewonnen Freiheit.
    England feiert seine neu gewonnen Freiheit. Foto: Alberto Pezzali, dpa

    Doch selbst wenn es nicht wieder zu einem Lockdown kommt, zeigt der Blick nach Großbritannien, dass ein Anstieg der Neuinfektionen für die Wirtschaft zum Problem werden könnte. Infizierte sowie enge Kontaktpersonen müssen in Quarantäne, was Arbeitgeber in Bedrängnis bringt. Geschätzt müssen sich derzeit rund 1,7 Millionen Briten selbst isolieren, weil sie an Covid-19 erkrankt sind oder Kontakt zu Infizierten hatten. Dazu gehören nicht nur prominente Vertreter der Regierungsbank, sondern auch große Teile der Belegschaften von Supermärkten, Logistikfirmen, Pflegeeinrichtungen oder Müllabfuhren - also alle, die das Leben eigentlich am Laufen halten sollten. Die Folge: Supermarktregale leeren sich und können nicht schnell genug wieder aufgefüllt werden. Mülltonnen bleiben voll vor der Tür stehen. Pubs müssen wieder schließen, weil niemand mehr hinter dem Zapfhahn steht. Und auch in die Schulen sind vom Alltag weit entfernt: 20 Prozent der britischen Schülerinnen und Schüler befinden sich in Quarantäne.

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