Scheitert der Impfplan durch den Stopp von Johnson & Johnson?
Exklusiv Nach dem Impftstopp für Johnson & Johnson droht ein Scheitern der Herdenimmunität bis Herbst. Immunologe Carsten Watzl fordert einen Alleingang der Bundesregierung.
In Expertenkreisen löste eine Meldung der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA bereits Ende vergangener Woche Besorgnis aus. Die Arzneiaufseher untersuchen nicht nur beim in die Diskussion geratenen Impfstoff von AstraZeneca gefährliche Nebenwirkungen. Auch beim amerikanischen Impfstoff von Johnson & Johnson würden vier Fälle von gefährlichen Hirnvenenthrombosen geprüft. Nun kommt die Hiobsbotschaft aus den USA: Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA empfahl einen sofortigen Impfstopp.
Auch für Deutschlands Impfstrategie ist die Nachricht ein schwerer Schlag. Johnson & Johnson galt als wichtige Waffe im Kampf gegen die dritte Welle: Eine einzige Dosis davon soll schwere Corona-Verläufe so weit vermeiden, dass Geimpfte im Krankenhaus oder gar auf der Intensivstation landen.
Johnson & Johnson droht Schicksal wie AstraZeneca
Doch sechs Amerikanerinnen im Alter zwischen 18 und 48 Jahren erlitten innerhalb von zwei Wochen nach der Impfung mit Johnson & Johnson Hirnvenenthrombosen: Eine starb, eine befindet sich noch in kritischem Zustand. Auch in den USA ist die Nebenwirkung nur sehr selten: Insgesamt sieben Millionen Amerikaner haben eine Impfung von Johnson & Johnson erhalten.
Doch auch angesichts der europäischen Berichte des in den USA noch nicht eingesetzten Impfstoffs von AstraZeneca empfahl die „Food and Drug Administration“ vorsichtshalber eine „Pause“ der Impfungen. Johnson & Johnson spielt in Amerika ohnehin kaum eine Rolle: Pfizer-Biontech und der Hersteller Moderna liefern mehr als 23 Millionen Dosen ihrer modernen mRNA-Impfstoffe – und zwar pro Woche.
Liefermengen, von denen man in Deutschland nur träumen kann: Die für April bis Juni insgesamt versprochenen 10,1 Millionen Impfdosen von Johnson & Johnson waren ein wesentlicher Teil der deutschen Impfkampagne. Nun drohen sie ebenfalls wie die bis Juni erwarteten 15 Millionen Dosen von AstraZeneca nur eingeschränkt an Ältere verimpft werden zu können.
Immunologe Carsten Watzl: Haben nicht genug Impfstoff für unter 60-Jährige
„Wenn es sich bewahrheitet, dass die Nebenwirkungen ähnlich häufig sind, wäre die Konsequenz, dass wir in Deutschland auch den Impfstoff von Johnson & Johnson ebenso wie AstraZeneca nicht für die unter 60-Jährigen verwenden sollten“, sagt Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. „Dann bekommen wir für unsere Impfstrategie ein Problem, denn wir haben nicht genug mRNA-Impfstoff für die unter 60-Jährigen.“
Zwar erhält Deutschland im zweiten Quartal 40 Millionen Impfdosen von Biontech. Aber im dritten Quartal wird die Lieferung des Herstellers gemäß der Bestellvereinbarung reduziert. Stattdessen sehen die Pläne noch mehr Lieferungen von AstraZeneca und auch von Johnson & Johnson vor. Zwar steht bis dahin der Impfstoff des Tübinger mRNA-Pioniers Curevac vor der Zulassung. „Aber alles in allem hätten wir erst Ende des Jahres genug für die unter 60-Jährigen“, warnt Watzl. „Dann könnte uns eine vierte Pandemie-Welle bevorstehen, weil wir noch nicht die Herdenimmunität erreicht haben, die wir eigentlich im Spätsommer bzw. Anfang Herbst erwarten könnten“, erklärt der Dortmunder Professor.
Immunologen fordern Nachbestellungen bei Biontech und Curevac
„Der deutschen Impfkampagne droht ein großes Problem, deswegen muss die Bundesregierung jetzt reagieren und sowohl mit Biontech als auch mit Curevac in neue Verhandlungen treten und mehr Impfdosen für Deutschland sichern“, fordert Watzl. „Sonst stehen wir im Sommer mit nicht genug Impfstoff für die unter 60-Jährigen da.“ Deutschland sollte hier einen Alleingang wagen, da es über die EU zu lange dauert und jetzt viele andere Länder ähnlich aktiv würden.
Laut Watzl ist es kein Zufall, dass bei Johnson & Johnson und AstraZeneca, die gleichen Nebenwirkungen aufzutreten scheinen, bei den völlig anders konstruierten mRNA-Impfstoffen aber nicht. „Es scheint eine generelle Nebenwirkung der Vektorimpfstoffe zu sein und hängt vermutlich mit den darin in einer hohen Dosis verwendeten sogenannten Adenoviren zusammen“, sagt er. „Ob die Nebenwirkung bei Johnson & Johnson genauso häufig auftritt wie bei AstraZeneca, weiß man noch nicht, weil man wohl erst die Spitze des Eisbergs sieht.“ Möglicherweise würden – ähnlich wie bei den inzwischen 222 AstraZeneca-Fällen in Europa – bald auch in den USA Fälle nachgemeldet.
Experte befürchtet Hirnvenenthrombosen auch bei Sputnik V
Im Prinzip funktionieren die beiden sogenannten Vektorimpfstoffe nach dem gleichen Prinzip der Adenoviren, zu denen auch viele Erkältungsviren gehören. „Es ist zu erwarten, dass diese Nebenwirkungen auch bei Sputnik V auftreten und dem chinesischen Impfstoff von CanSino“, erklärt Impfmittelexperte Watzl. „Prinzipiell sind die Viren zwar verschieden, aber Vektorimpfstoffe basieren auf der gleichen Familie von Adenoviren.“
AstraZeneca benutzt demnach einen Schimpansen-Virus, Johnson & Johnson den humanen Adenovirus-26, Sputnik V den Adenovirus-26 für die erste und Adenovirus-5 für die zweite Impfung. Die Chinesen verwenden den Adenovirus-5. Die gefährlichen Hirnvenenverschlüsse entstehen nach ersten Erkenntnissen dadurch, dass die Betroffenen sogenannte Autoantikörper herstellten, die sich gegen den eigenen Körper richten und ihre Blutplättchen aktivieren, sowie eine Gerinnung die Blutung kleiner Wunden stoppt.
Möglicherweise Veranlagung oder Vorerkrankung Grund für Risiko
„Es ist noch nicht ganz klar, warum diese Autoantikörper ausgelöst werden“, sagt Watzl. „Möglicherweise sind die viralen Partikel selber der Bösewicht oder die darin enthaltene Nukleinsäure.“ Allerdings träten die Nebenwirkungen sehr selten auf. „Vermutlich haben die betroffenen Menschen eine spezielle Veranlagung, die entweder genetisch oder durch frühere Infektionen bedingt ist“, erklärt der Immunologe. „Es könnte sein, dass die Betroffenen geringe Mengen von diesen Antikörpern in sich tragen und diese erst durch diese Impfung verstärkt werden.“
Eines ist jedoch schon jetzt klar: Die vor allem in Deutschland geleistete Entwicklung der neuartigen mRNA-Impfstoffe erweist sich immer mehr als Hoffnungsschimmer in der Pandemie. Auch mit 95 Prozent Wirksamkeit schlagen sie jeden Vektorimpfstoff.
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