Die Intensivmediziner-Vereinigung DIVI sieht angesichts des nachlassenden Impftempos keine Möglichkeit für eine schnelle Beendigung der Corona-Maßnahmen. „Eine Aufhebung aller Maßnahmen ist aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar“ sagte DIVI-Präsident Gernot Marx im Interview mit unserer Redaktion. „Damit entstünde ein unkalkulierbares Risiko massenhaft völlig unnötiger Infektionen und letztendlich zum Teil auch schwerer Verläufe“, warnte er.
Es gebe zwar in Großbritannien trotz hoher Infektionszahlen momentan nicht viele Schwerkranke. „Aber in Deutschland haben wir noch Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, die nicht geimpft sind“, warnte Marx. „Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir nicht wieder viele Schwerkranke bekommen.“
Die Pandemie ist noch nicht bewältigt
Covid-19 bleibe eine ausgesprochen lebensbedrohliche Erkrankung, sagte der Intensivmediziner-Präsident. „Wir dürfen jetzt auf keinen Fall so tun, als wenn die Pandemie schon bewältigt wäre“, betonte er. Es gebe einen Grund, jetzt zu werde. „Wir können nicht ausschließen, dass es im Herbst oder Winter wieder schlimm werden könnte“, warnte er.
Es müsse jetzt darum gehen, weiter vorsichtig zu sein, um die Zahl der Ansteckungen niedrig zu halten und für Impfungen zu werben. „Jetzt kommt es darauf an, diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer zögern, gut zu informieren und aufzuklären.“ Die Gefahr sei nach wie vor groß, sich anzustecken und schwer zu erkranken oder das Long-Covid-Syndrom zu bekommen. „Das lässt sich sehr wirksam verhindern, indem man sich komplett impfen lässt und viele Menschen dazu motiviert.“
DIVI-Präsident rückt umstrittenes Grippe-Zitat zurecht
Der DIVI-Präsident wies zugleich den Eindruck zurück, er erwarte, dass eine vierte Welle die Kliniken nur noch ähnlich wie die normale saisonale Influenza treffen werde: „Dieses Zitat mit der Grippe ist leider ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen worden. Bei der Antwort ging es um die Frage, was wird aus Corona, wenn die Pandemie eines Tages vorbei ist.“ Soweit sei es aber nicht. „Die Pandemie ist nicht vorbei“, betonte Marx. „Wir können nicht ausschließen, dass es im Herbst oder Winter wieder schlimm werden könnte“, erklärt er. „Aber wie die vierte Welle aussehen wird, das haben wir alle jetzt selbst in der Hand“, fügt der Mediziner hinzu. „Im Moment ist die Inzidenz niedrig, nun muss man schauen, dass der sogenannte R-Wert, also die Zahl, wie viele andere Menschen ein Infizierter ansteckt, niedrig bleibt.“
Ebenso wies Marx Kritik zurück, seine Organisation habe mit ihren Warnungen vor einer Überlastung der Intensivstationen in den vergangenen Pandemiewellen übertrieben. „Unsere Prognosen waren auch im Nachhinein sehr genau“, betonte er. Auf dieser Grundlage seien politische Maßnahmen getroffen worden. „Das hat dazu geführt, dass unsere Worst-Case-Szenarien Gott sei Dank nicht eingetroffen sind“ ,sagte er. „Wir kamen sowohl in der zweiten als auch in der dritten Welle an unsere Grenzen“, berichtete der Intensivmediziner. Dies sei aber regional sehr unterschiedlich gewesen. „Die meisten unserer Kritiker kommen aus Regionen, wo es nicht so dramatisch wurde.“ Die Kritik müsse man aushalten. „Und das ist bei weitem besser aushaltbar, als wenn wir unsere Patienten nicht mehr gut hätten versorgen können.“
Kliniken machten in Pandemie gute Erfahrung mit Digitalisierung
Die Intensivmedizin haben aus der Pandemie viele Erfahrungen gewinnen können. „Für uns waren die Digitalisierung und die Vernetzung die beiden wichtigsten positiven Lehren aus dieser Krise“, sagte Marx. „Als Intensivmediziner haben wir in der Pandemie große Vorteile der Digitalisierung erlebt."
Das Intensivregister habe sich als große Hilfe erwiesen, die vorhandenen Ressourcen an Intensivplätzen gut zu steuern und die Vernetzung habe die Patientenversorgung verbessert. So seien zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen die Unikliniken Aachen und Münster mit über hundert Krankenhäusern als virtuelles Krankenhaus NRW verbunden worden, um gemeinsam die Covid-19- Patienten zu behandeln und Verlegungen zu vermeiden. „Das sollten wir auch nach der Pandemie ausbauen“, sagte Marx.
Telemedizin soll Patienten auch nach Pandemie helfen
Über solche Zentren könnten Kliniken in der Region gemeinsam mit anderen Häusern mit geballter gemeinsamer Kompetenz auch andere Patienten behandeln. „Wir zählen auch ohne Corona mehr als zwei Millionen Intensivpatienten jedes Jahr in Deutschland“, sagte Marx.
„Wir könnten mit solchen Zentren 24-Stunden-Tele-Intensivmedizin und universitäre Expertise allen Klinken in der Fläche zur Verfügung stellen. Man kann um halb zwei Uhr nachts über das Webportal anklopfen und gemeinsam den besten Diagnose- und Behandlungsweg finden.“ Es gehe darum, dass die Patienten die optimale Versorgung und Therapie zeit- und wohnortnah erhalten könnten.
Pflegemangel droht sich durch Pandemie zu verschärfen
Marx kritisierte, dass die Politik jedoch zu wenig beim Hauptproblem der Personalausstattung handle. „ Wir haben in der Pandemie oft erlebt, dass zwar technische Kapazitäten vorhanden sind, aber diese mangels Personal nicht genutzt werden konnten“ sagte Marx. Die Berufe und Arbeitsbedingungen müssten attraktiver gemacht werden. „Trotzdem fehlt es weiterhin an der konkreten politischen Umsetzung“, sagte Marx.
So verdienten Pflegekräfte nach einer Weiterbildung nur geringfügig mehr als zuvor. „Auch steuerfreie Zuschläge für Nachtarbeit, Sonn- und Feiertage sollten attraktiver werden“, forderte der DIVI-Präsident. Auch müsste Kita-Plätze von früh morgens bis in die Spätschicht zur Verfügung stehen. „Wir brauchen also eine Menge konkreter Maßnahmen, um die Menschen auch nach der Pandemie in diesen wichtigen Berufen zu halten. Sonst werden wir sie verlieren!“, warnte Marx.