Führende Experten fordern zur radikalen Beschleunigung der Corona-Impfungen in Deutschland einen Strategiewechsel auf Erstimpfungen, um bis spätestens Ende Juni allen Bundesbürgern einen Grundschutz vor schweren Krankheitsverläufen anzubieten. "Mit den erwarteten Lieferungen im jetzt begonnenen zweiten Quartal besteht jetzt wirklich die Möglichkeit für einen Impfturbo", sagte der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl unserer Redaktion. Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach forderte den Abstand bei den Impfstoffen von Biontech und Moderna von sechs auf zwölf Wochen zu erhöhen.
"Es geht nicht nur um eine Perspektive für die Menschen, sondern vor allem darum, jetzt in der dritten Welle tausende Todesfälle durch die viel gefährlichere Virusvariante B.1.1.7 zu vermeiden", sagte der SPD-Politiker unserer Redaktion. "Mit der Strategie der Erstimpfung können wir das Impftempo in Deutschland erheblich beschleunigen", betonte er.
Immunologe Carsten Watzl: "Wir müssen jetzt den Impfturbo einschalten"
"Wir müssen den Impfturbo angesichts der dritten Welle jetzt einschalten", sagte der Immunologe Watzl. "Deutschland muss in dieser Situation den Fokus darauf richten, so vielen Menschen wie möglich eine Erstimpfung zukommen zu lassen", betonte der Dortmunder Professor. Dazu gehöre es, den Abstand zwischen der ersten und zweiten Impfdosis, wie jetzt von der Ständigen Impfkommission empfohlen, auf 42 Tage oder länger auszudehnen.
"Aufgrund des verlängerten Impfabstandes macht es überhaupt keinen Sinn mehr, Impfstoffdosen zurückzulegen", betonte Watzl. "Wir haben derzeit über 1,2 Millionen Dosen Biontech und eine halbe Million von Moderna auf Lager in den Gefrierschränken liegen. Das sind weit über zehn Prozent des bislang in der Pandemie gelieferten Impfstoffs", kritisierte er. "Wir müssen jetzt aber pragmatisch sein und alles verimpfen, was geliefert wird."
Watzl nannte Modellrechnungen realistisch, denen zufolge bei einer konsequenten Ausrichtung auf Erstimpfungen bereits Ende Mai bis Mitte Juni je nach Impfbereitschaft alle impfwilligen Bundesbürger einen Grundschutz gegen schwere Krankheitsverläufe durch eine Erstdosis erhalten könnten.
Karl Lauterbach: Bis zum 1. Juli Erstimpfung für jeden Impfwilligen
Auch der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach hält eine Durchimpfung der Bevölkerung noch in diesem Quartal für realistisch: "Wir könnten bis zum 1. Juli jedem Impfwilligen das Angebot einer Erstimpfung machen, da jetzt im zweiten Quartal die Impfstofflieferungen deutlich ansteigen", sagte er unserer Redaktion. "Bis Juli könnten über 60 Millionen Menschen in Deutschland die Erstimpfung haben", betonte er.
"Ich plädiere dafür, den Abstand bei Biontech und Moderna von sechs auf zwölf Wochen zu erhöhen, damit wir jetzt schnell deutlich mehr Menschen eine Erstimpfung geben können, um sie angesichts der stark steigenden Infektionszahlen vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen", sagte er. "Studienergebnisse aus Australien weisen darauf hin, dass der Schutz der mRNA-Impfstoffe auch zwischen der sechsten und der zwölften Woche nach der Impfung so stark ausgeprägt ist, dass bei einer Corona-Infektion das Risiko schwerer Verläufe mit Klinikaufenthalten oder tödlichem Ausgang extrem gering ist."
Experte: "Zwölf Wochen Impfabstand aus immunologischer Sicht vertretbar"
Auch der Immunologe Watzl hält eine Ausweitung des Impfabstands bei mRNA-Impfstoffen auf zwölf Wochen für möglich: "In Großbritannien werden Biontech und Moderna im Abstand von zwölf Wochen verimpft, das ist aus immunologischer Sicht vertretbar", sagt er. "Es kann zwar sein, dass die Wirkung der mRNA-Impfstoffe in dem Zeitraum zwischen sechs und zwölf Wochen nicht mehr ganz so gut ist. Aber auch dieser Zwischenphase schützen sie sehr gut vor schweren Verläufen einer Corona-Erkrankung, wie man derzeit in Großbritannien sehen kann", erklärte er. "Deshalb sollte man den Fokus jetzt ganz klar auf die Erstimpfung legen, aber die Zweitimpfung nicht vergessen. Selbst wenn der Impfabstand etwas länger als sechs Wochen ist, retten wir dadurch möglicherweise mehr Menschenleben als wir schwere Erkrankungen riskieren."
Karl Lauterbach fordert "letzten harten Lockdown"
Lauterbach verwies auf eine Studie der Pandemie-Modellrechner Dirk Brockmann, Benjamin Maier und Michael Meyer-Hermann, an der auch der SPD-Politiker als Epidemiologe beteiligt war: "Durch eine Umstellung der Impfstrategie auf Erstimpfungen könnte man laut unseren Modellrechnungen in den kommenden Monaten weit über 10.000 Menschenleben retten und sehr viele Menschen vor Langzeitfolgen schwerer Corona-Erkrankungen schützen", sagte Lauterbach. "Wenn wir jetzt unsere Strategie wechseln und auf möglichst viele Erstimpfungen ausrichten, wird kein vierter Lockdown mehr nötig sein."
Gleichwohl sei, um die dritte Welle zu brechen, jetzt ein letzter harter Lockdown notwendig, forderte der SPD-Politiker. "Härter als bislang bedeutet, Ausgangssperren am Abend und Schulunterricht nur für die Schüler, die zweimal in der Woche getestet werden und dazu bereit sind", sagte Lauterbach. Zudem forderte er eine Homeoffice-Pflicht, wo dies möglich sei, und eine Testpflicht in den Betrieben.
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