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Corona-Pandemie: Das Coronavirus - der amerikanische Albtraum

Corona-Pandemie

Das Coronavirus - der amerikanische Albtraum

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    Der Grand Central Terminal in New York gilt als der Bahnhof mit den weltweit meisten Gleisen. Hier ist sonst, erst recht zu früher Stunde, der Teufel los.
    Der Grand Central Terminal in New York gilt als der Bahnhof mit den weltweit meisten Gleisen. Hier ist sonst, erst recht zu früher Stunde, der Teufel los. Foto: Mark Lennihan/AP, dpa

    Draußen vor der Union Station kündigt sich der Frühling an. Es sind die Tage der Kirschblüte – eigentlich die schönste Zeit in Washington. Doch nicht nur die Touristen, die hier normalerweise in die Sightseeing-Busse drängen, fehlen. Der Kontrast des farbenprächtigen Naturschauspiels zur gespenstischen Leere im Inneren des Bahnhofsgebäudes könnte nicht größer sein. Alle Läden sind geschlossen. Nur ein paar Obdachlose kauern mit ihren wenigen Habseligkeiten in einer Ecke der monumentalen Halle.

    Die Corona-Krise hat auch das Land lahmgelegt, in dem die Geschäfte normalerweise an fast allen Tagen des Jahres um Kunden buhlen und für jeden Bedarf eine Dienstleistung anbieten. Seit zehn Tagen ist die Hauptstadt ausgestorben. Die großen Avenues, auf denen sich normalerweise die Autos stauen, sind leer gefegt. Die Geisterzüge der Metro rauschen in jeder vierten Station ohne Halt durch. Geschäfte, Schulen, Museen, der Arboretum-Landschaftspark – alles dicht. Nicht einmal mehr einen „Coffee to go“ gibt es bei Starbucks um die Ecke. In düsterer Vorahnung hat der Kosmetikhändler seine Schaufenster mit Holzplatten vernagelt.

    Mindestens 70.000 Personen haben sich in den USA mit Covid-19 infiziert -

    „Wir haben die Stadt lahmgelegt, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen“, sagt Bürgermeisterin Muriel Bowser. Die Gouverneure der wichtigsten Bundesstaaten haben ähnliche Restriktionen erlassen. Mit gutem Grund: Anderthalb Monate, nachdem Präsident Donald Trump erklärte, der lebensgefährliche Erreger werde sich mit dem wärmeren April-Wetter auf wundersame Weise verziehen, drohen die USA nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Epizentrum der Pandemie zu werden. Mindestens 70.000 Menschen haben sich bis Donnerstag infiziert und mehr als 1000 sind an Covid-19 gestorben. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

    Das Virus verschont niemanden – auch nicht die Politik. Ein Senator und zwei Kongressabgeordnete sind positiv getestet worden, der Mann der ehemaligen demokratischen Präsidentschaftskandidatin Amy Klobuchar ist schwer erkrankt, mehrere Volksvertreter haben sich selbst in Quarantäne begeben. Das vom Senat beschlossene Zwei-Billionen-Dollar-Hilfspaket für Unternehmen und Beschäftigte soll an diesem Freitag vor weitgehend leeren Bänken vom Repräsentantenhaus durchgewunken werden. Auch die großen Fernsehsender haben ihre Präsenz im Zentrum der Weltmacht deutlich ausgedünnt. Nachdem ein Korrespondent an Covid-19 erkrankte, dürfen nur noch 14 Journalisten nach sorgfältiger Messung der Körpertemperatur zu den täglichen Pressekonferenzen von Donald Trump ins Weiße Haus.

    In New York spielen sich schreckliche Szenen ab

    „Amerika erzielt immer weitere Geländegewinne im Krieg gegen das Virus“, brüstet sich der Präsident bei diesen im Stil einer bizarren Reality-TV-Show inszenierten Auftritte. Vier Autostunden nordöstlich, in New York, spielen sich im wirklichen Leben derweil apokalyptische Szenen ab. In einem einzigen Krankenhaus im Stadtteil Queens sind am Dienstag 14 Menschen dem Coronavirus erlegen. Einige starben nach Recherchen der New York Times in der Notaufnahme, während nach einem freien Bett für sie gesucht wurde. Die Leichen mussten in einem Kühlwagen auf der Straße gelagert werden.

    Das erinnert an düsterste Bilder aus Italien, obwohl Gouverneur Andrew Cuomo mit Ausgangssperren, Hilferufen und Behelfsspitälern alles tut, um den drohenden medizinischen Kollaps abzuwenden. Mit mehr als 30.000 Infizierten ist sein Bundesstaat der Brandherd der Corona-Pandemie in Amerika. In der Millionenmetropole New York, wo oft hunderte Menschen in einem Hochhaus leben, dieselben Aufzugsknöpfe drücken und sich in der U-Bahn kaum aus dem Weg gehen können, verbreitet sich das Virus mit teuflischer Geschwindigkeit. Erst in 21 Tagen erwarten die Experten hier den Höhepunkt. Dann werden voraussichtlich 140.000 Krankenhausbetten gebraucht. Bislang gibt es nur 53.000.

    Die Schutzkleidung für das medizinische Personal könnte bald auszugehen

    Noch schlimmer ist der Mangel an Beatmungsgeräten, von denen in New York wohl 30.000 benötigt werden – dreimal soviel, wie derzeit vorhanden sind. Auch die Schutzkleidung für das medizinische Personal droht auszugehen. Und Tests, die zur Vermeidung weiterer Ansteckungen ganz dringend erforderlich wären, sind wie im ganzen Land selbst für klare Verdachtsfälle nicht ausreichend verfügbar.

    Dass Trump sein Krisenmanagement gleichwohl mit der Bestnote „Zehn“ benotet, lässt sich nur mit einer narzisstischen Wahrnehmungsstörung erklären. Der Ankündigung des Präsidenten, schon Ostern könne das Land weitgehend zur Normalität zurückkehren, widersprechen selbst republikanische Landesväter. „Wir glauben nicht, dass der Höhepunkt vor dem 1. Mai erreicht wird“, twitterte etwa Mike DeWine, der Gouverneur von Ohio. Wie viele Kollegen denkt er nicht daran, die Restriktionen aufzuheben: „Der einzige Weg, das zu verlangsamen, ist das Social Distancing.“

    Trump spielt die Pandemie zu einer normalen Grippewelle herunter

    An der rechten Trump-Basis auf dem flachen Land aber möchten viele nur allzu gerne den Verheißungen des Präsidenten glauben, der die Pandemie zu einer normalen Grippewelle herunterspielt und eine baldige Wunder-Therapie verspricht. Entsprechend wütend fallen die Kommentare unter der Erklärung von DeWine bei Twitter aus. „Ich hoffe, Sie sind für eine Revolte der Massen bereit“, droht ein Leser. „Wenn das Land weitere sechs Wochen dichtgemacht wird, besorge ich mir ein Gewehr“, kündigt ein anderer an.

    Doch nicht nur politisch driften die USA derzeit noch weiter auseinander. Die Corona-Krise vertieft auf brutale Weise auch den sozialen Graben der amerikanischen Gesellschaft. Längst sind die Millionäre von der Upper East Side in Manhattan in ihre Ferienhäuser auf den exquisiten Hamptons geflohen. Im Küstenörtchen Wildwood in New Jersey ist der Andrang der Zweitwohnungsbesitzer so groß, dass der Bürgermeister zur Abschreckung die Sperrung der Uferpromenade erwägt. Wer es sich irgendwie leisten kann in der Hauptstadt Washington, der arbeitet in diesen Tagen aus dem Home-Office im Vorstadthäuschen. Das geht natürlich nicht für die Kassiererin im Laden, den Kurier von UPS oder den Busfahrer. Und zufälligerweise sind sie alle schwarz.

    Viele Mittelschicht-Kunden in den USA meiden die Supermärkte

    Auch hinter der engen Kasse der Supermarktkette Trader Joe’s steht eine Afroamerikanerin. „Ich hoffe bloß, dass die den Laden nicht irgendwann dichtmachen“, sagt sie. Die junge Frau arbeitet auf Stundenlohnbasis. Buchstäblich von heute auf morgen kann sie ihren Job ohne soziale Absicherung los sein – so wie der Barista bei Starbucks, der Kellner beim Italiener oder die Friseurin im Haar-Salon, die geschlossen haben.

    Beim Öko-Supermarkt Whole Foods herrscht in diesen Tagen viel Betrieb. Allerdings hat sich die Zusammensetzung des Publikums geändert. Statt gesundheitsbewusster Mütter und Väter im Feierabendstress drängeln nun viele junge Schwarze durch die Gänge und beladen nach einem Blick in ihr Smartphone eine Reihe brauner Tüten in ihren Einkaufswagen. Darin werden die Bestellungen der Amazon-Prime-Kunden für den Lieferservice zusammengestellt. Wegen der Ansteckungsgefahr meiden viele Mittelschicht-Kunden inzwischen die Supermärkte. Das Personal aber hat weder Mundschutz noch Handschuhe, und den empfohlenen Mindestabstand kann es auch oft nicht einhalten.

    Es gibt auch Hilfsbereitschafft: Ein Mann verschenkt Gesichtsmasken, die er übrig hat

    Es gehört zum Paradox der USA, dass ausgerechnet in einer Zeit, die aus medizinischen Gründen das Auseinanderrücken der Menschen propagiert, auch jene individuelle Initiative und Hilfsbereitschaft gestärkt wird, die zum Kern dieser Gesellschaft gehört. „Hallo! Meine beiden Mitbewohner und ich würden sehr gerne für Sie Erledigungen machen, Lebensmittel abholen oder was sonst gebraucht wird“, bieten Freiwillige auf dem Nachbarschaftsportal Nextdoor schon wenige Tage nach dem Lockdown ihre kostenlose Hilfe an: „Wir stehen das alle gemeinsam durch!“

    Ein anderer Nachbar verschenkt vier Gesichtsmasken, die er unbenutzt von seinem Haus-Umbau übrig hat – und natürlich kurz darauf vergriffen sind. Ein Arzt ein paar Straßen weiter bietet kostenlose telefonische Beratung an.

    Im Luxushotel übernachten jetzt die Krankenschwestern

    Die Hilfsbereitschaft ist nicht auf das direkte Umfeld beschränkt. Normalerweise betreibt der Starkoch José Andrés eine Reihe von angesagten Restaurants im ganzen Land. Die sind nun geschlossen. Stattdessen hat Andrés nun in New York, Washington, Los Angeles und Oakland zahlreiche Straßenküchen eröffnet, wo er kostenloses Essen für Schulkinder und Arme ausgibt. In New York haben sich 6000 Psychotherapeuten und Pfleger zusammengeschlossen und betreiben nun eine Hotline für Menschen in seelischer Not. Die Luxus-Hotelkette Four Seasons stellt in ihrer Nobelherberge im Herzen Manhattans, wo die Nacht normalerweise locker mit 1000 Dollar zu Buche schlägt, kostenlos Zimmer für Ärzte und Krankenschwestern zur Verfügung, die von anderswo anreisen, um beim Kampf gegen die Pandemie zu helfen.

    Kaum jemand verkörpert in diesen Tagen den amerikanischen Spirit so wie der New Yorker Gouverneur Cuomo. Während Trump in seinen Briefings eine Mischung aus Selbstlob, Schönrednereien und Tiraden verbreitet, beschreibt der 62-jährige Demokrat jeden Morgen nüchtern, knapp und doch empathisch-aufbauend die Lage. „Das kann für ein paar Monate so weitergehen“, erklärt er Anfang dieser Woche und beschreibt das Trauma einer Metropole im Ausnahmezustand.

    Doch die Bürger, mahnt Cuomo eindrücklich, dürften sich von den negativen Eindrücken nicht überwältigen lassen: „Viele werden den Virus bekommen. Aber nur wenige werden in Gefahr sein.“

    Über alle Entwicklungen rund um das Coronavirus informieren wir Sie in unserem Live-Blog.

    Wie verändert sich die Arbeit von Journalisten in Zeiten des Coronavirus? In einer neuen Folge unseres Podcasts geben wir einen Einblick.

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