Wenn sich die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin in gut einer Woche zu ihrem nächsten Corona-Gipfel treffen, sollten eigentlich weitere Öffnungsschritte verkündet werden. Doch das Szenario wird zunehmend wacklig. Denn die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt im Vorwochenvergleich und mit ihr der Inzidenzwert, der am Freitag bei über 70 lag. Prognosen der Universität des Saarlandes zufolge könnte die Inzidenz für ganz Deutschland bereits Ende März/Anfang April die 100er-Schwelle übersteigen. Lothar Wieler, Chef des RKI, sieht Deutschland am Anfang einer dritten Welle: "Ich bin sehr besorgt."
Auch die Zahl der zu behandelnden Corona-Patienten sinkt nicht mehr
Anders als von vielen angenommen, liegt die neue Dynamik nicht an den zusätzlichen Schnelltests, die seit Beginn der vergangenen Woche angeboten werden. "Das ist schlichtweg nicht zutreffend", betont Wieler. Festmachen lässt sich das unter anderem an der Zahl der Patienten, die klinisch behandelt werden müssen – auch die sinkt nicht länger. Zudem gebe es vermehrt Ausbrüche in Kitas. "Es gibt keine künstliche Erhöhung der Fallzahlen", stellt Wieler klar.
Das zeigt sich auch im Alltag der Mediziner. In der München Klinik Schwabing liegen inzwischen auch jüngere Patienten mit schweren Verläufen, die meisten von ihnen sind mit der britischen Variante infiziert, die nicht nur ansteckender, sondern auch tödlicher ist. "Die dritte Welle rollt an", sagt der Chefarzt der Infektiologie, Clemens Wendtner. "Dabei wollten wir jetzt eigentlich wieder Kapazitäten für die Patienten aufbauen, die wir in den letzten Monaten nicht vollumfänglich versorgen konnten, etwa für diverse Operationen. Das ist bitter."
Wendtner: "Das ist eine Fahrt mit angezogener Handbremse"
Ob der Anstieg wirklich mit den Lockerungen der vergangenen Woche zusammenhängt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Üblicherweise vergehen mindestens zehn Tage von der Infektion bis zur Klinik-Einweisung. "Die Welle war schon am Anrollen als die Lockerungen beschlossen wurden", sagt Wendtner. Deshalb seien Notbremsen eingebaut, die inzwischen auch aktiviert werden. Wer über die 100er-Inzidenz kommt, geht in den Lockdown. "Das ist eine Fahrt mit angezogener Handbremse", sagt er.
Ob die Öffnungsstrategie sogar ganz ausgebremst wird, dürfte sich schon bald zeigen. Die Bundesregierung jedenfalls warnt zur Vorsicht in der Debatte um weitere Lockerungen des Corona-Lockdowns. Alle Öffnungsschritte seien "mit absoluter Vorsicht und Umsicht" zu treffen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Ziel müsse sein, eine dritte Corona-Welle möglichst flach zu halten. Das reicht nicht allen. "Schon die bisherigen Lockdown-Maßnahmen waren zur Eindämmung der gefährlicheren britischen Covid-19-Mutante nicht ausreichend", sagt der Arzt und CSU-Abgeordnete Stephan Pilsinger. Er warnt: "Die Lockerungen werden die Ausbreitung nun zusätzlich weiter beschleunigen und wieder zu einem exponentiellen Wachstum wahrscheinlich mit Zahlen wie an Weihnachten führen."
Lauterbach glaubt nicht an Lockerungen
"Wir werden einen Großteil der geplanten Lockerungen nicht realisieren können, zumindest nicht, ohne dass wir flächendeckend Schnelltests in Betrieben und Schulen einsetzen", glaubt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. "Lockerungen setzen stabile oder sinkende Fallzahlen voraus." Doch die seien auf absehbare Zeit nicht zu erreichen. Das gestiegene Ansteckungsrisiko sei inzwischen deutlich zu sehen, der Verlauf sei vielfach schwerer. "Jetzt kommen die schwersten Wochen der Pandemie." Wie schnell die Lage kippen kann, zeigt unter anderem das Beispiel Italien. Dort soll über die Osterfeiertage wieder der Lockdown gelten.
Auch in Bayern versucht man allzu große Hoffnungen zu dämpfen. "Ich verstehe die Sehnsucht nach weiteren Öffnungen sehr gut – sowohl für die Wirtschaft als auch für jede und jeden ganz persönlich", sagt Gesundheitsminister Klaus Holetschek. "Die Frage, wann es endlich soweit sein wird, ist aber leider nicht leicht zu beantworten." Die Virus-Mutanten würden ihm große Sorgen bereiten. Er setzt deshalb auf die Notbremse bei einer Inzidenz von über 100.
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