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Corona: Lockerungen trotz hoher Zahlen: Russland stellt das Virus einfach ab

Corona

Lockerungen trotz hoher Zahlen: Russland stellt das Virus einfach ab

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    Die Idylle trügt: Der Wachmann vor einem künstlichen Baum im wiedereröffneten Moskauer Kaufhaus GUM hat wenig zu tun, denn trotz der Lockerungen kommen fast keine Kunden.
    Die Idylle trügt: Der Wachmann vor einem künstlichen Baum im wiedereröffneten Moskauer Kaufhaus GUM hat wenig zu tun, denn trotz der Lockerungen kommen fast keine Kunden. Foto: Pavel Golovkin, dpa

    Hellblau geht spazieren. Zusammen mit Gelb. Am Tag darauf folgt Dunkelblau. Die Moskauer Stadtverwaltung hat jedes Haus in Europas größter Stadt in sechs Farben eingeteilt und den Menschen in diesen Häusern an drei Tagen in der Woche Ausgang gewährt. „Spaziergänge nach Plan“, nennt sie das, nachdem die Moskauer coronabedingt mehr als zwei Monate lang zu Hause bleiben mussten. Nur das Einkaufen, der Gang zur Apotheke und das Ausführen des Hundes – 100 Meter von der Wohnadresse entfernt – waren erlaubt. Es sei ein zweiwöchiges Experiment, erklärte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin.

    Dabei ist nicht nur der Aufenthalt draußen im Radius von zwei Kilometern von der Wohnung entfernt gestattet, sondern auch Frühsport in der Zeit von fünf bis neun Uhr. Die Farbübung ist Teil von größeren Lockerungen in der Stadt. Shoppingmalls haben wieder geöffnet, bleiben aber weitgehend leer. Chemische Reinigungen empfangen Kunden, in der Stadt bilden sich zur Rushhour wieder Staus. Moskau erwacht zum Leben, auch wenn die strikte „Selbstisolation“ samt Passierscheinen weiterhin gilt. Wie auch die Masken- und Handschuhpflicht.

    Täglich 9000 Neuinfektionen bedeuten für den Kreml eine "stabile Lage"

    Nach offiziellen Angaben sind in Russland mehr als 430.000 Menschen an Covid-19 erkrankt. Täglich melden die Behörden etwa 9000 neue Infektionsfälle. Der Kreml bezeichnet das als „stabile Lage“ und will den Eindruck vermitteln, alles im Griff zu haben. Mögen da auch Ärzte in der Nordkaukasus-Republik Dagestan mit Hilferuf-Videos, in denen infizierte Krankenschwestern in Regalen eines Abstellraums liegen, auf die drohende medizinische Katastrophe in der Region aufmerksam machen. Mögen die Kranken in Zelten vor Krankenhäusern in Nowosibirsk, der drittgrößten russischen Stadt, auf ihre Behandlung warten. Und mögen auch die Listen mit den Namen toter Mediziner, die mit Covid-19-Patienten zu tun hatten, Tag für Tag länger werden. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow, selbst coronagenesen, bezeichnete Nachrichten über tote Ärzte als „Provokation“. Alexander Mjasnikow, der Leiter des russischen Coronavirus-Monitoring-Informationszentrums, sagte: „Wer sterben muss, wird sterben.“ Folgen hat ein solcher Satz keine.

    Das Gesundheitsministerium rät dazu, symptomfreie Corona-Fälle gar nicht erst in die Statistik einfließen zu lassen. Während die Moskauer Stadtverwaltung auf allen Kanälen darauf verweist, die Selbstisolation gelte bis mindestens Mitte Juni, findet ab Samstag gleichwohl ein Bücherfest auf dem Roten Platz statt. Man könne ja einen Passierschein dafür beantragen, heißt es in der Ankündigung. Widersprüchliche Aussagen sind die Begleiter der Corona-Krise. Im Land vertraut niemand niemandem, weder der Staat seinem Volk noch das Volk dem Staat. Auch untereinander vertrauen sich die Menschen nicht. Zynismus hat sich breitgemacht.

    Die Krise bringt die politischen Pläne Putins durcheinander

    Die Krise offenbart, wie dysfunktional das System Putin ist. Der Präsident selbst vermittelte erst Zurückhaltung, mittlerweile pflegt er eine gelangweilte Haltung. Das Virus hatte die politischen Pläne im Land durcheinandergewirbelt: Mit einer für viele verstörenden Verbissenheit sollen die Hauptereignisse nun nachgeholt werden: Die Militärparade zum Ende des Zweiten Weltkrieges findet anstatt am 9. Mai nun am 24. Juni statt. Die Soldaten üben bereits in Masken. Auch die Abstimmung über die Verfassungsänderung – im April ebenfalls verschoben – findet am 1. Juli statt. Der Machterhalt geht über alles.

    Viele Russen erwarten mehr Hilfe und weniger Patriotismus

    Der Kreml ist ungeduldig und beruhigt die Bevölkerung damit, dass genug Betten zur Behandlung von Covid-19 vorhanden seien. Die Zustimmungswerte für Putin sind in Umfragen so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die Parade und die Abstimmung sollen das Gefühl von Geschlossenheit hervorrufen. Doch sie könnten das genaue Gegenteil bewirken. Viele Russen erwarten inzwischen mehr wirtschaftliche Hilfen vom Staat, keine patriotische Inszenierung von Stärke.

    Lesen Sie dazu auch: Russland überschreitet Marke von 400.000

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