Es ist, als ob der Kampf um Leben und Tod, um den es in den kommenden Wochen und Monaten in Deutschland geht, die Bundeskanzlerin in der letzten Phase ihrer bald 15-jährigen Regierungszeit verändert. Angela Merkel erklärt, wirbt um Verständnis für ihre Entscheidungen, findet hochemotionale Worte, sie spricht zu den Bürgern. In der Corona-Krise scheint der 65-Jährigen all das wichtig, was ihr die Kritiker sonst immer als Defizit vorgehalten haben
Selbst der politische Gegner ist beeindruckt. "Das war eine sehr bewegende Ansprache. Danke, Angela Merkel, für Klarheit, Besonnenheit, Tatkraft", sagte etwa die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Eva Högl. Der Auftritt der Kanzlerin im Fernsehen – er wurde zur Punktlandung. "Ganz ehrlich? Ich bin gerade ziemlich froh, dass der Stab noch nicht gewechselt hat", sagte ein CDU-Mann, der ansonsten eigentlich zu den Unterstützern des Merkel-Widersachers Friedrich Merz zu zählen ist.
Angela Merkels Beliebtheitswerte werden wohl einen neuen Schub bekommen
Zwar waren Merkels Beliebtheitswerte bei den Wählern schon vor der Corona-Krise besser als die aller anderen Spitzenpolitiker. Mit der Krise dürften sie einen weiteren Schub bekommen. Der Grund ist geradezu paradox: Merkel tritt bald ab, sie muss nicht mehr auf Beliebtheitsskalen schielen und kann befreit von allen Macht- und Karrierezwängen arbeiten. Weil ihr also Umfragewerte egal sein können, werden die ansteigen. Vor allem aber: Merkel ist in Krisen gut, ohne Krisen ist sie es eher nicht.
Die Finanz- und Eurokrise ist dafür das beste Beispiel. Als diese 2007 auf internationalem Parkett begann und dann langsam Europa in den Sog zog, schwang sich Merkel zu großer Form auf. Sie war präsent, erklärte, beruhigte aufgeregte Sparerseelen. Gleichzeitig zwang sie in langen Brüsseler Nächten die Staats- und Regierungschefs der anderen Euro-Staaten erst in die Knie und anschließend zur Unterschrift unter einen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Als die Krise dann auch wegen dieses Paktes abebbte, verlor Merkel den Kompass. Ihre Umfragewerte und die der CDU rutschten bis 2010 auf neue Tiefstwerte. Bis die nächste Krise auf den Plan trat.
Bei der Reaktorkatastrophe von Fukushima ging Angela Merkel eigene Wege
Als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe in Fukushima löste sich Merkel im März 2011 sogar von den Leitlinien ihrer Partei und folgte einzig und allein ihrem Gewissen. Die damalige CDU-Chefin erklärte den endgültigen Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie. Es waren, wie sie später verriet, tatsächlich die Bilder aus Japan, die sie zu diesem Schritt bewogen hatten. Damals entschied Merkel mit einem kurzen und knappen "Wir machen das" ähnlich impulsiv wie bei ihrem "Wir schaffen das" bei der nächsten Krise, den Flüchtlingsbewegungen im Oktober 2015.
Auch die Corona-Krise weckt das Menschliche in der ansonsten eher nüchternen Analytikerin Angela Merkel. Ihr Wunsch, erstmals außerhalb der üblichen Neujahrsreden eine Fernsehansprache ans Volk zu halten, entsprang nicht dem Geltungsdrang, wie ihn andere Politiker gerade zeigen. Vor allem zwei Passagen zeigen die persönliche Betroffenheit. Sie, die ein sehr enges Verhältnis zu ihrer letztes Jahr gestorbenen Mutter Herlind Kasner pflegte, wies eindringlich darauf hin, dass die behördlichen Einschränkungen "nicht einfach abstrakten Zahlen in einer Statistik" entspringen würden. Dahinter stehe vielmehr "ein Vater oder Großvater, eine Mutter oder Großmutter, eine Partnerin oder Partner, es sind Menschen", erklärte Merkel, die gleichzeitig ergänzte: "Und wir sind eine Gemeinschaft, in der jedes Leben und jeder Mensch zählt."
Corona-Krise: Angela Merkel bringt ihre Erfahrungen aus DDR-Zeiten ins Spiel
Aufmerksam müssen auch diese Sätze gelesen werden: "Lassen Sie mich versichern: Für jemandem wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen nur in der absoluten Notwendigkeit zu rechtfertigen." Immer wieder hat Merkel in der Vergangenheit darauf hingewiesen, welchen Eindruck und auch welchen Einfluss das DDR-Regime auf sie hatte, in dem sie aufwuchs. Den Deutschen diese Ketten anzulegen, die mit dem Fall der Mauer schon gesprengt schienen, wird ihr deshalb keine leichtfertige Entscheidung gewesen sein.
Trotzdem bleibt Merkel die, die sie ist. Ihr Fernseh-Auftritt ist anders als der des pathetischen Präsidenten Frankreichs, Emmanuel Macron, oder des jugendlich wirkenden österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz. In Zeiten der Krise holt die Physikerin ihr wissenschaftliches Handwerkszeug hervor. Sie analysiert, strukturiert, zieht Schlüsse und formuliert Konsequenzen. Ausdrücklich wiederholt Merkel bei ihren Auftritten immer wieder die Zahlen, die ihr die Experten sagen.
Das Umfeld unterstützt die Kanzlerin ohne Wenn und Aber
Merkel hat gerade das Glück, in einem Umfeld agieren zu können, das sie in ihrem Walten bedingungslos unterstützt. Da ist etwa der Chef des Bundeskanzleramtes, Helge Braun, den sie einst als Nachfolger von Peter Altmaier (beide CDU) in das Büro holte, das dem ihren auf der anderen Seite des Ehrenhofs im Kanzleramt auf Augenhöhe gegenüber liegt. Oder Regierungssprecher Steffen Seibert, der im August auf zehn Jahre Dienst an Merkels Seite zurückblicken kann. Wie seine Chefin wird auch er dem Vernehmen nach keine weitere Legislaturperiode im Amt bleiben. Im Gegensatz zu Gesundheitsminister Jens Spahn, der noch die ganz große Karriere machen möchte, gleichwohl aber diese Tage einen soliden Job macht und keine nervigen Starallüren an den Tag legt.
Die Krise bringt es mit sich, dass sogar die Debatten um eine vorzeitige Ablösung der Kanzlerin verstummt sind. Von einer Verjüngung des Kabinetts im Sommer mag derzeit nicht einmal CSU-Chef Markus Söder sprechen. Die Neubesetzung der CDU-Spitze ist verschoben auf unbestimmte Zeit, verstummt sind die Wahlkampfreden der Hauptbewerber Norbert Röttgen, Friedrich Merz und Armin Laschet. Auch das verschafft Merkel den Raum, um zum womöglich letzten großen Coup in ihrer politischen Karriere noch mal richtig Atem zu holen: Für Merkel birgt die Krise die Chance, sich ein politisches Denkmal zu setzen.
Hat Angela Merkel Erfolg, dürfte ihr kaum fast jeder Ruhm gönnen
In der Eurokrise war sie zwar vornean, aber es gab auch andere Akteure. Die Flüchtlingsbewegung kostete sie Reputation. Die Steuerung durch eine Epidemie wie die aktuelle hingegen öffnet die Tür zu den Stuben der Geschichtsschreiber. Selbst wenn die schlimmsten Auswirkungen bald beendet sein sollten, dürften beispielsweise die wirtschaftlichen Folgen noch lange nachwirken. Merkel kann ihre Qualitäten als Krisen-Kanzlerin also noch lange ausspielen. Sollte sie Erfolg haben, wäre da am Ende wohl kaum einer, der ihr den Ruhm dafür nicht gönnt.
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