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Corona-Krise: Absolut am Limit: Zu Besuch in einem belgischen Krankenhaus

Corona-Krise

Absolut am Limit: Zu Besuch in einem belgischen Krankenhaus

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    Intensivpatienten in ganz Belgien mussten Ende Oktober in deutsche Krankenhäuser verlegt werden – unser Foto zeigt medizinisch streng überwachte Transportvorbereitungen vor einem Krankenhaus in Lüttich.
    Intensivpatienten in ganz Belgien mussten Ende Oktober in deutsche Krankenhäuser verlegt werden – unser Foto zeigt medizinisch streng überwachte Transportvorbereitungen vor einem Krankenhaus in Lüttich. Foto: Valentin Bianchi, AP, dpa

    Zwei Männer mit Schutzmasken und Handschuhen packen mit an, um den Sarg aus Eichenholz aus dem Lieferwagen zu hieven und über die Hufengasse zu tragen. Auf der einen Seite der Straße im ostbelgischen Eupen liegt in einem Gebäude aus rotem Ziegelstein und einem Anbau aus Glas und Beton das Sankt-Nikolaus-Krankenhaus. Auf der anderen Seite befindet sich hinter einer hell gestrichenen Fassade das Bestattungsinstitut Despineux-Karls. Todesanzeigen vom Vortag hängen am Schaufenster in einer Reihe. Die Verstorbenen sind in den 30ern, 40ern oder 60ern geboren. Alle haben ihr Leben innerhalb von 24 Stunden ausgehaucht. „Im Frühjahr war das Schaufenster von oben bis unten voll mit Todesanzeigen“, sagt die Bestatterin Danielle Karls.

    Während der erste Welle hat das Virus in einem Altersheim in der knapp 20.000 Einwohner zählenden Stadt im deutschsprachigen Teil Belgiens gewütet. In Eupen mussten die Särge damals in der Kapelle auf dem Friedhof gestapelt werden. So weit sei es jetzt noch nicht, meint Karls Partner Marc Despineux. Doch die Intensivstation der Sankt-Nikolaus-Klinik ist voll mit Coronapatienten irgendwo zwischen Leben und Tod.

    Corona kam wie ein Tsunami über Belgien

    Der belgische Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke verglich die Entwicklung der Pandemie mit einem Tsunami. Dieser übertraf die erste Welle an Infizierten im Frühjahr um ein Vielfaches. Die Zahl der Neuinfektionen am Tag betrug am 30. Oktober knapp 24.000 in dem Land mit elfeinhalb Millionen Einwohnern. Der Wert war zehn Mal höher als in den schlimmsten Tagen der ersten Welle. Ende Mai hatte die Rekord-Sterberate in Belgien mit 840 Todesfällen auf eine Million Einwohner ganz Europa erschreckt.

    Wie viele Menschenleben nun die zweite Welle verschlingen wird, werden erst die kommenden Wochen zeigen. Eine Corona-Infektion tötet langsam, wenn Patienten eine Intensivbehandlung erhalten. Viele liegen über Wochen am Beatmungsschlauch, bis das Virus obsiegt.

    Gevatter Tod sei derzeit in Ostbelgien ein unberechenbarer Zeitgenosse, finden die Eupener Bestatter. Während sie davor bangen, was die kommenden Wochen der Stadt bringen, hätten ihre Kollegen in den französischsprachigen Nachbargemeinden schon seit Wochen alle Hände voll zu tun, erzählen sie. „Wir hören von ihnen, wie schlimm es ist in Lüttich“, meint Karls.

    Einziger Befund: Corona, Corona, Corona

    Der Pfleger Alexander Bongartz kann sich an das Wochenende Anfang Oktober erinnern, als der Corona-Tsunami über das Eupener Krankenhaus mit seinen 192 Betten hinwegrollte. Die Patienten mit dem trockenen Husten und Fieber füllten die Notaufnahme. „Wir hatten gar keine anderen Befunde mehr als Corona“, sagt er. Bongartz sitzt mit seinen Kollegen Andreas Schumacher und Brigitte Veithen an einem Konferenztisch in einem Aufenthaltsraum der Klinik. Ein Fenster ist gekippt, um die Luft zu durchmischen. Die drei Pfleger erlebten den Monat Oktober, als kröchen sie gemeinsam durch einen Tunnel, der sie immer tiefer führte. Doch dann erschien in der ersten Novemberwoche das sprichwörtliche Licht an dessen Ende.

    Die Zahlen der Neueinweisungen sanken zum ersten Mal seit Wochen, statt zu steigen. Am 20. November lag der Durchschnitt der registrierten Neuinfektionen in den vergangenen sieben Tagen bei 4353. Nur, und das ist für die Pflegekräfte ein entscheidender Wermutstropfen, gibt es wegen der Dauer einer Covid-Erkrankung absehbar auf Wochen keinen Platz auf der Intensivstation mit ihren sechs Betten. „Es dürfte jetzt in Ostbelgien kein Reisebus verunglücken. Gut, dass sie ohnehin nicht fahren“, sagt Schumacher.

    Ein Feldlazarett wurde für Corona-Kranke gebaut

    Er und seine Kollegen schildern, wie dem Eupener Krankenhaus im Oktober die Optionen ausgingen. Zunächst meldete das benachbarte Lüttich, dass es keine Patienten mehr aufnehmen kann. In der ostbelgischen Stadt Verviers errichteten die Soldaten ein Feldlazarett nur für Corona-Fälle. Es genügte nicht. Die Einweisungen in die Krankenhäuser im ganzen Land stiegen und stiegen. Steven van Gucht, Leiter des belgischen Gesundheitsamts Sciensano, nannte am 29. Oktober den 6. November als das Datum, an dem alle 2000 Intensivbetten Belgiens mit Corona-Kranken belegt sein würden. Ganz so schlimm sollte es schließlich doch nicht kommen.

    Der Eupener Chefarzt Frédéric Marenne telefonierte in diesen Tagen nach Deutschland – nämlich mit seinen Kollegen in den Kliniken der nur rund 20 Kilometer entfernten Stadt Aachen. Dort bekam er zum ersten Mal kein „Nein“ auf seine Frage zu hören, ob noch Intensivbetten frei seien. Sieben Krankenhäuser im Raum Aachen nahmen insgesamt zehn Schwerkranke aus dem Sankt-Nikolaus-Krankenhaus auf. 85 Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen erklärten sich bereit, belgische Corona-Patienten auf ihren Intensivstationen zu versorgen.

    Kliniken in Nordrhein-Westfalen nahmen belgische Patienten auf.
    Kliniken in Nordrhein-Westfalen nahmen belgische Patienten auf. Foto: Fabian Strauch, dpa (Symbolbild)

    Die Deutschen hätten belgische Ärzte und Pfleger vor einem Albtraum bewahrt, meint Pfleger Schumacher. „Ohne diese Hilfe hätten wir Patienten selektieren müssen.“ Das Wort „Selektion“ klingt in deutschen Ohren schauderhaft. Das Synonym „Triage“ geisterte im Oktober durch die Krankenhausflure Belgiens. Es bedeutet: Wenn es mehr Patienten als Intensivbetten gibt, müssen die Ärzte entscheiden, wer beatmet wird – und wer nicht. Ein entscheidendes Kriterium ist dann, bei welchem Patienten die Beatmung am meisten Erfolg verspricht. Andere bleiben zwangsläufig auf der Strecke.

    Doch fehlende Betten seien nicht das einzige Problem, betont Schumacher. Pfleger hätten im Oktober ihren Urlaub unterbrochen, um ihre Kollegen nicht im Stich zu lassen. Der Dauerstress zehre an den Kräften. „Wir haben inzwischen einen Krankenstand von 15 bis 20 Prozent. Da sind zum einen zahlreiche Corona-Infektionen. Aber viele von uns sind nach neun Monaten Krise einfach körperlich und psychisch am Ende“, sagt Schumacher.

    Die Krankenpflegerin hatte sich auch infiziert

    Seine Kollegin Brigitte Veithen weiß nicht, wo sie sich im Oktober mit Corona infiziert hat. Möglich, dass es außerhalb der Klinik geschah. Vielleicht passierte es auch in einem Moment der Unachtsamkeit an jenen endlosen Tagen, an denen der Stoff ihrer Maske Striemen auf der Haut hinterließ. „Mir ging es fünf Tage sehr schlecht. Gott sei Dank musste ich nicht ins Krankenhaus“, sagt sie. Veithen scheint sich der Ironie ihrer Aussage nicht bewusst zu sein. Positiv getestete Pfleger wurden in Lüttich angehalten, zum Dienst zu erscheinen, solange sie selbst nicht schwer erkrankten.

    Beschäftigte im Gesundheitssektor demonstrierten im Zentrum von Brüssel für mehr Anerkennung und bessere Ausrüstung.
    Beschäftigte im Gesundheitssektor demonstrierten im Zentrum von Brüssel für mehr Anerkennung und bessere Ausrüstung. Foto: Olivier Matthys, ap, dpa

    Der Chefarzt des Eupener Krankenhauses, Frédéric Marenne, wirkt wie ein Mann, der sich in den Zeiten vor der Pandemie auf einen festen Handschlag verstand. Obwohl sein Krankenhaus noch vor einigen Tagen am Rand des Kollapses stand und seine Intensivstation immer noch am äußersten Limit arbeitet, versprüht Marenne beim Gang durch die Klinik Zuversicht.

    Der Chefarzt fürchtet eine dritte Corona-Welle

    Die zweite Welle habe ihren Höhepunkt in Belgien überschritten, meint er. Es erstaunt nicht, dass Marenne die Lage beim Personal in nicht so düsteren Farben malt wie sein Mitarbeiter Schumacher, der Mitglied in der Gewerkschaft der Pflegekräfte ist. Doch auch der Chefarzt äußert Sorge vor einer dritten Corona-Welle nach den Familienfeiern an Weihnachten. Die Kooperationen zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden bei der Verteilung der Corona-Kranken müsse weitergehen, fordert er. „Wir werden uns bei den Deutschen revanchieren, sollten die Betten in Aachen knapp werden“, verspricht Marenne. Denkbar wäre natürlich auch, dass nach Weihnachten weder in Nordrhein-Westfalen noch in Belgien oder in den Niederlanden Intensivbetten zur Verfügung stehen. Auf Nachfrage räumt der Mediziner ein, dass dann die Triage unausweichlich würde.

    Die Bürgermeisterin von Eupen, Claudia Niessen, sieht von ihrem Büro im Stadthaus auf die ziemlich menschenleeren Straßen ihrer Stadt. Voraussichtlich bis Mitte Dezember sind die meisten Geschäfte und die gesamte Gastronomie in Belgien geschlossen. Die 41-jährige Politikerin der grünen Partei Walloniens, Ecolo, ist sich bewusst, dass die Verwaltung vor Weihnachten nur vor schlechten Optionen steht. Ein Wiederhochfahren des öffentlichen Lebens könnte im Weihnachtsgeschäft existenzbedrohten Läden helfen. Aber die Ärzte und Pfleger müssten Lockerungen vor Weihnachten im Januar vielleicht ausbaden, fürchtet sie. Dass Belgien aus eigener Kraft sein Gesundheitswesen stabil halten kann, erwartet sie nicht. „Wir können noch viele Betten bauen, aber ohne ausreichend Personal sind das nur Möbel.“

    Belgien und seine Konflikte

    Belgien mit seinen 11,5 Millionen Einwohner ist aufgeteilt in zwei (Sprach-)Regionen: Flandern im Norden des Landes mit seiner niederländisch-sprachigen Bevölkerung und Wallonien im Süden, wo Französisch gesprochen wird. Nur die Hauptstadt Brüssel ist unabhängig.

    Die Deutschsprachige Gemeinschaft, zu der Eupen zählt, gehört mit ihren rund 78.000 Einwohnern zur Region Wallonien.

    Das Land ist durch historisch bedingte Interessenskonflikte zwischen Flandern und Wallonien politisch zerrissen.

    Diese Feindschaft wirkt sich auch auf die Gesundheitspolitik aus. Der Gesundheitsexperte Alain Dewever von der Freien Universität in Brüssel etwa geißelt den von Konflikten geprägten belgischen Föderalismus als zu ineffektiv für eine nationale Gesundheitskrise. Über Behandlung oder Nichtbehandlung von Altersheimbewohnern in den Kliniken sei zufolge im Frühjahr solange gerungen worden, bis das Massensterben mit an 14.000 Toten seinen Höhepunkt überschritten hat. Viele Ärzte plädieren daher für eine Zentralisierung der Gesundheitspolitik. (AZ)

    Niessen ist auch Präsidentin des Verwaltungsausschusses der Klinik Sankt-Nikolaus. Sie berichtet, dass in dem Gremium Kriterien für die Triage ausgearbeitet werden, um Ärzte mit den Entscheidungen nicht alleinzulassen. Das sei sehr schwer, meint sie. „Was machen Sie, wenn Sie als Arzt drei Familienväter gleichen Alters und im gleichen Zustand haben, aber nur einen retten können? Entscheiden sie dann nach Augenfarbe?“ Die Bürgermeisterin will ihrer Gemeinde ein solches Leid ersparen. Die dafür nötigen Entscheidungen kann Niessen im Staat Belgien nicht alleine treffen.

    Belgischer Corona-Patient ist deutschen Ärzten dankbar

    Einer der Belgier, die in einer deutschen Klinik geheilt wurden, ist Georg von Schwartzenberg. Als er nach Wochen auf der Intensivstation in Aachen wieder in den Spiegel schaute, musste er weinen. „Ich hatte am ganzen Körper keine Muskeln mehr“, sagt er. Die Aachener Ärzte beatmeten den Belgier im Frühjahr über Wochen, operierten seine Lunge, entfernten ein Stück Dickdarm. Sie schickten ihn in die Reha, damit er wieder Gehen lernte. Die Deutschen kämpften elf Wochen lang um von Schwartzenbergs Leben und Gesundheit. „Wenn man da liegt, denkt man schon daran, ob man jemand aus Aachen gerade den Platz wegnimmt. Aber alle haben es verneint.“ Sieht der Eupener in den Nachrichten Berichte von den überfüllten Intensivstationen in Belgien, würden seine Augen feucht, gesteht er. Es sind auch Tränen der Dankbarkeit für die deutsche Hilfe.

    Wie lange die Aachener den Belgiern noch beistehen können, hängt von der Entwicklung der Pandemie auf der deutschen Seite der Grenze ab.

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