Gut eine Woche ist es her, dass Deutschland mit seiner Impfaktion gegen das Coronavirus begonnen hat. Große Hoffnungen liegen in dem Impfstoff und seiner Verteilung. Doch kaum dass die ersten Spritzen gesetzt wurden, hagelte es auch schon Kritik. Zu wenig Impfstoff, zu schleppende Verteilung, in anderen Ländern gehe es schneller voran: Die Bundesregierung und auch die EU-Kommission stehen unter Rechtfertigungsdruck. Immer lauter und massiver werden die Vorwürfe. Inzwischen gerät gar die Kanzlerin persönlich in die politische Schusslinie. Was aber ist dran an der Schelte? Eine Spurensuche.
Könnten wir zurzeit mehr Imfpstoff auch wirklich verimpfen?
Selbst wenn man – wie manche Bundesländer es tun – die Hälfte der Dosen für die nötige zweite Impfung zurücklegt, wurde noch längst nicht die gesamte Menge aufgebraucht. Ist die Debatte über mehr Impfdosen also bloße Theorie, weil wir gar nicht mehr Vakzin verimpfen könnten? Nicht unbedingt.
Die allererste Phase der Impfstrategie braucht am meisten Zeit: In Deutschland gibt es gut eine Million Bewohner von Pflege- und Altenheimen, die als erste von insgesamt sechs Bevölkerungsgruppen geimpft werden sollen. Die allermeisten sind nicht mehr mobil genug, um in eines der rund 400 Impfzentren gebracht zu werden, weshalb die Ärzte in Teams in die Senioreneinrichtungen fahren müssen, was einen großen Zeitaufwand bedeutet.
Allerdings leben in Deutschland insgesamt 5,4 Millionen Menschen im Alter über 80 Jahren. Zusammen mit über zwei Millionen Pflegekräften und medizinischen Beschäftigten in besonders gefährdeten Bereichen zählt allein die oberste Prioritätengruppe laut der Ständigen Impfkommission 8,6 Millionen Bürger. Allerdings stehen laut Bundesregierung im Januar nur drei bis vier Millionen Impfdosen zur Verfügung, bis März voraussichtlich 13 Millionen. Da jede Person für wirksamen Schutz zwei Impfdosen braucht, könnte nicht einmal die oberste Risikogruppe damit bis zum Frühjahr geimpft werden.
Das Hausärztenetz ist für die breite Impfung der Bevölkerung besonders wichtig
Mehr Impfstoff wäre deshalb tatsächlich nötig. Bayerns öffentliche 99 Impfzentren schaffen nur 30.000 Impfungen am Tag: Bei einer Doppelimpfung bräuchte es über zwei Jahre, zwölf Millionen Bayern durchzuimpfen. Deshalb ist für die breite Impfung der Bevölkerung das Hausärztenetz wichtig. Hier ruhen derzeit viele Hoffnungen auf dem Impfstoff von AstraZeneca. Er braucht nur eine unkomplizierte Kühlung, nur eine Einfachdosis und kostet einen Bruchteil. Er soll aber laut Studien mit gut 70 Prozent deutlich weniger wirksam sein als die hochmodernen teuren mRNA-Impfstoffe, die auf 95 Prozent Schutz kommen. Zudem können die Mittel von AstraZeneca derzeit wegen fehlerhafter Studien nur per Notzulassung wie in Großbritannien und Indien eingesetzt werden.
Sollte die Bundesregierung der Impfkommission und dem normalen Zulassungsverfahren weiter folgen, dürfte der erste Normalbürger ohne Risiko-Vorerkrankung unter 60 Jahren frühestens im Hochsommer oder Herbst geimpft werden können. Da aber viele Länder wie die USA schneller handeln, dürfte es bald eine Debatte über Notzulassungen und parallele Hausärzte-Impfungen geben. Das Beispiel der Grippeimpfungen zeigt, dass die 45.000 deutschen Hausärzte binnen weniger Wochen weit über zehn Millionen Menschen impfen können.
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