„Die von Ministerpräsident Kretschmann ins Spiel gebrachte Impfpflicht ist eine Debatte zur Unzeit und absolut kontraproduktiv, sie führt zur Verunsicherung anstatt zu ermutigen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion unserer Redaktion. „Zudem legt Herr Kretschmann mit seinem Schwadronieren über einen Lockdown und harte Eingriffe erneut die Axt an die grundgesetzlich geschützten Freiheitsrechte der Menschen“, kritisierte der FDP-Landeschef von Baden-Württemberg.
FDP-Fraktionsvize Michael Theurer fordert aktivere Impfkampagne
Theurer forderte eine aktivere Impfkampagne und mehr Werbung für Impfungen. „Anstatt mit staatlichem Zwang zu drohen, sind Anreize der bessere Weg“, betonte der FDP-Politiker. „Bund und Länder müssen in einer konzentrierten Kampagne das Impfen niedrigschwellig in sozialen Brennpunkten, bei Veranstaltungen, Besuchen in Einkaufszentren, in Schwimmbädern, an Stränden, in Diskotheken, Kneipen, Restaurants, Bahnhöfen und Flughäfen anbieten“, forderte der FDP-Fraktionsvize. „Zudem sollte die Bundesregierung gemeinsam mit prominenten Vertretern aus Wirtschaft, Kultur und Sport im Rahmen einer pfiffigen Werbe- und Informationskampagne für das Impfen mobilisieren“, fügte er hinzu.
„Während Ministerpräsident Kretschmann die Impfpflicht direkt ins Spiel bringt, möchte Kanzleramtsminister Helge Braun die Impfpflicht durch die Hintertür einführen“, kritisierte Theurer auch den CDU-Kanzleramtschef. „Damit setzen schwarz-grün quasi im Schulterschluss unverblümt auf staatlichen Zwang und werfen ihre Versprechen über Bord.“ Die FDP bleibe damit der alleinige Anwalt der Freiheitsrechte, sagte Theurer.
Kretschmann: Impfpflicht nicht für alle Zeiten ausschließen
Kretschmann hatte zuvor eine Impfpflicht zwar nicht aktuell aber im weiteren Kampf gegen die Corona-Krise für denkbar erklärt. "Wir planen keine Impfpflicht. Für alle Zeiten kann ich eine Impfpflicht nicht ausschließen", sagte der Grünen-Politiker der Deutschen Presse-Agentur.
"Es ist möglich, dass Varianten auftreten, die das erforderlich machen." Es könne gut sein, "dass wir irgendwann gewisse Bereiche und Tätigkeiten nur noch für Geimpfte zulassen". Er nannte die Masern als Beispiel: "Da gibt's auch eine Impfpflicht für die Kitas, weil Masern höchst ansteckend sind." Ohne Impfungen werde man die Pandemie nicht in die Knie zwingen können.
Grünen-Ministerpräsident blickt pessimistisch auf Herbst
Kretschmann warnt seit längerem vor einer vierten Welle und blickt eher pessimistisch auf Herbst und Winter. Das Virus könnte aus seiner Sicht noch einmal genauso gefährlich zurückkommen wie im vergangenen Herbst, als die Infektionszahlen plötzlich drastisch anstiegen. "Wir fahren weiter auf Sicht. Die Virusmutationen haben uns schon zweimal einen Strich durch die Rechnung gemacht", sagte er. "Treten Varianten auf, gegen die der Impfstoff nicht mehr so wirksam ist - sind wir sofort in einer anderen Situation." Es gebe keine Entwarnung.
Kretschmann appellierte deshalb an die Menschen, sich impfen zu lassen. "Im Kern kann man sagen: Impfen ist Bürgerpflicht. Es geht um sehr viel. Das sollte jeder verantwortlich denkende Mensch einfach tun." Die Nebenwirkungen von Covid seien viel schlimmer als die der Impfstoffe überhaupt sein könnten. Auch wisse man wenig über die Langzeitfolgen einer Virusinfektion. Die Menschen müssten ihre Bedenken gegen die Impfung radikal zurückstellen.
Baden-Württemberg will Geimpfte besser stellen
Die Landesregierung im Südwesten hat schon weitere Lockerungen für vollständig geimpfte Menschen im Laufe des Septembers angekündigt. Da bis zum 15. September 2021 jede Bürgerin und jeder Bürger einen umfassenden Impfschutz haben könne, wolle man dann die Auflagen für vollständig Geimpfte weiter abschwächen.
Kretschmann hat kein Verständnis für Menschen, die in Risikogebieten Urlaub machen oder Zweitimpftermine wegen einer Urlaubsreise sausen lassen. "Solchen Leichtsinn können wir bitter bezahlen, indem man schwer erkrankt, indem man andere ansteckt, indem wir insgesamt, wenn das zu viele machen, die Sache nicht in Griff bekommen."
Debatte um neuen Inzidenzwert
Die Politik werde sich künftig im Kampf gegen die Pandemie trotzdem neben dem Inzidenzwert auch auf andere Kriterien stützen. "Die Lage hat sich durch das Impfen verändert", sagte Kretschmann. Die besonders anfälligen Gruppen wie Alte und Vorerkrankte seien weitgehend geimpft, die Quote der Menschen, die ins Krankenhaus müssen, habe abgenommen. "Es gibt auch die Möglichkeit, andere Kriterien mit reinzubringen - wie die Hospitalisierung, die Impfquote, den R-Faktor. Dann kommt man sozusagen zu einer Art Formel", sagte er. Die Gesundheitsminister seien beauftragt, da einen Vorschlag zu entwickeln. "Der Nachteil ist: Das ist schwerer zu verstehen, denn bisher wusste jeder: Die Inzidenz ist der entscheidende Faktor. Das konnte jeder nachvollziehen. Nun wird es komplizierter."
Die zweite Option aus Sicht des Regierungschefs: "Man kann natürlich wie Jens Spahn darüber nachdenken, die Inzidenz als Wert für Maßnahmen grundsätzlich höher anzusetzen als bisher. Ohne weitere einordnende Kennzahlen zur Situation sehe ich das aber skeptisch." Kretschmann gab auch zu bedenken, dass eine hohe Inzidenz immer schlecht sei. "Je schneller das Virus zirkuliert, desto häufiger wird es mutieren", sagte er. "Niedrige Inzidenzen bedeuten langsamere Mutationen." (mit dpa, pom)