Es ist eine ganze Zeit lang ruhig gewesen um die Corona-Warn-App. Das ändert sich aber gerade – oder täuscht dieser Eindruck?
Anke Domscheit-Berg: Nein, der täuscht nicht. Die Corona-Warn-App ist von der Bundesregierung lange stiefmütterlich vernachlässigt worden. In einer Phase, in der wir sie eigentlich dringend gebraucht hätten. Insofern freue ich mich, dass sich das jetzt endlich ändert.
In den vergangenen Monaten war aber auch die App selbst recht ruhig – bei mir steht sie trotz hoher Inzidenz schon sehr lange unverändert auf Grün.
Domscheit-Berg: Ich höre häufig, die App sei kaputt, weil man gar keine Warnungen erhalte. Wenn ich auf mich selbst schaue: Ich bin ab und zu im Bundestag, aber viel weniger als früher – weil wir auch dort viele Aufgaben digital machen können. Ansonsten mache ich 99 Prozent meiner Aufgaben digital. Ich treffe nur meine Kernfamilie. Wo soll da eine rote Warnung herkommen?
Das könnte sich durch die Lockerungen jetzt aber ändern.
Domscheit-Berg: Durch mehr Kontakte wird es wieder zu mehr Warnungen kommen. Aber so wenige sind es aktuell gar nicht. Wie viele Menschen eine Warnung hochgeladen haben, zeigt die App seit einiger Zeit an. Vor ein paar Wochen haben an manchen Tagen mehr als 5000 Nutzer ihre Warnung über die App geteilt. Durch Datenspenden von sechs Millionen App-Nutzer weiß man inzwischen, dass im Durchschnitt sechs Menschen durch eine einzige hochgeladene Warnung gewarnt werden. Die meisten Gewarnten lassen sich testen und einige entdecken so eine Infektion, von der sie nichts ahnten. Was die App aber noch wichtiger machen wird: Sie hat neue Funktionen und wird so noch nützlicher – das wird zu einer größeren Verbreitung beitragen. Die ist jetzt schon hoch: Im Moment nutzt sie etwa ein Drittel der Menschen. Aber es reicht bei einer Risiko-Begegnung ja nicht, wenn nur einer von beiden die App installiert hat. Der Nutzen der App steigt deshalb mit der Anzahl der Nutzer.
Sie haben die neuen Funktionen angesprochen: Man kann jetzt zum Beispiel Schnelltestergebnisse registrieren, die man zum Beispiel beim Friseurbesuch vorzeigen muss. Außerdem gibt es eine Check-In-Funktion. Wer etwa ein Restaurant besucht, scannt einen Code, um dort einzuchecken - in der App wird also gespeichert, dass man diesen Ort zu einer bestimmten Zeit besucht hat.
Domscheit-Berg: Die Check-In-Funktion finde ich am wichtigsten. Die Corona-Warn-App misst ja die Nähe zu einer anderen Person und warnt nur, wenn man einer infizierten Person eine bestimmte Zeit lang nahe gekommen ist. Das reicht bei Tröpfcheninfektionen. Seit etlichen Monaten weiß man aber, dass viele Corona-Ansteckungen über Aerosole entstehen. Die können in geschlossenen Räumen auch deutlich über zwei Meter entfernte Personen anstecken. Deshalb reicht es leider nicht, wenn man nur den Abstand misst. Genau da braucht es zusätzlich die Check-In-Funktion für geschlossene Räume. Die hätte schon im Herbst kommen müssen.
Der Infizierte kann also eine Infektion in der App eintragen – und Menschen, die sich mit dieser Person in einem kritischen Zeitraum mit der Corona-Warn-App etwa n einem Restaurant eingecheckt hatten, erhalten eine Warnung mit Empfehlung, sich testen zu lassen.
Domscheit-Berg: Und das ohne Einbindung der Gesundheitsämter - und deshalb viel schneller. Das ist wichtig, weil die ansteckendere B1.1.7-Variante des Virus eine kürzere Inkubationszeit hat. Manche Infizierte sind schon einen Tag, nachdem sie sich angesteckt haben, selbst ansteckend. Jeder einzelne Tag, den wir Menschen früher warnen, kann helfen, Infektionsketten abzuschneiden.
Die Check-In-Funktion ist aber nicht als Funktion der Corona-Warn-App bekannt geworden, sondern durch die Luca-App. Anders als bei der Corona-Warn-App trägt man in diese seine Kontaktdaten ein - damit sich das Gesundheitsamt im Fall der Fälle melden kann. Mit der App kann man dann genau wie mit der Corona-Warn-App an Orten einchecken. Diese Variante finden Sie aber weniger gut. Warum?
Domscheit-Berg: Weil die Luca-App eine sehr unsichere App ist. Sie setzt alles auf eine zentrale Datensicherung. Wer sich mit IT und Datensicherheit beschäftigt, bei dem schrillen da alle Alarmsignale. Das sind Bewegungsdaten, Daten über unser Sozialleben, von potenziell Millionen Menschen in Deutschland. Das alles auf einen Haufen - das ist wahnsinnig attraktiv für Datenjäger mit kriminellen Interessen. Außerdem ist die Warnung bei der Luca-App viel langsamer und unwahrscheinlicher. Denn die Kontaktdaten gehen im Fall einer Infektion an das Gesundheitsamt und nur das kann warnen, nach Prüfung der Daten. Die App soll die Papierlisten in Restaurant ersetzen und so die Gesundheitsämter entlasten. Ich habe mit Gesundheitsämtern gesprochen. Das im Bodenseekreis hat gesagt, dass sie solche Listen in einem Jahr Pandemie exakt drei Mal abgefragt haben. Die versprochene wahnsinnige Entlastung durch elektronische Listen ist also eher nicht zu erwarten. Was mit Luca aber passieren kann: Wenn einmal etwas abgefragt wird, dann bekommen die Ämter jede Menge Datenmüll. Die Stadt Weimar zum Beispiel hat Luca getestet. Das Gesundheitsamt hat 655 Datensätze abgerufen und alle geprüft. Man konnte exakt null Datensätze verwenden. Das war mehr Arbeit und gar kein Nutzen. Das ist das letzte, was die Gesundheitsämter in dieser Situation brauchen.
Warum konnten die Daten nicht verwendet werden?
Domscheit-Berg: Weil man leicht Fake-Daten eingeben kann und die App auch insofern unsicher entwickelt wurde, dass zum Beispiel jeder extrem leicht jeden anderen Nutzer – ohne dass der das weiß – jederzeit in einem beliebigen Luca-Ort einchecken kann.
Jan Böhmermann hat im April auf Twitter verkündet, dass er sich als „Michi Beck“ um 0:40 Uhr im Zoo Osnabrück eingecheckt hat. Von Berlin aus.
Domscheit-Berg: Und EnnoLenze (Berliner Unternehmer und Journalist, Anm. d. Red.) hat eine Luca-Veranstaltung aufgemacht und Leute eingeladen, sich einzuchecken. Das haben dann 600.000 Nutzer gemacht. Es gibt in der App keine Limits. Man lernt beim Programmieren gleich am Anfang, dass man für Felder definiert, was da reingehört – für ein Postleitzahlen-Feld zum Beispiel, dass das eine fünfstellige Zahl sein muss. Bei Luca ist das nicht so. Es gibt noch nicht mal eine Zeichenbegrenzung. Das kann zum Problem werden: Dann lässt sich dort nämlich auch schädlicher Code einfügen. Und die App wird ja an das IT-System des Gesundheitsamtes angeschlossen. Wenn da etwas passiert, kann das Gesundheitsamt wieder faxen und auf Papier schreiben. Das wäre eine Katastrophe.
Aber auch an der Corona-Warn-App gibt es Kritik. Sie ist besonders datensparend gebaut. Das heißt aber auch, dass das Gesundheitsamt keine Kontaktdaten der Menschen hat, die Kontakt zu einem Infizierten hatten. Ob jemand auf die Warnungen der App überhaupt reagiert, kann niemand überprüfen.
Domscheit-Berg: Nachdem man mit der Luca-App so leicht betrügen kann, sagen selbst die Luca-Macher: Entscheidend ist am Ende, dass sich die Menschen verantwortungsbewusst verhalten. Das ist aber ein Argument für die Corona-Warn-App. Klar ist: Es gibt keine perfekte Lösung. Doch in einer Pandemie mit überlasteten Gesundheitsämtern und kurzer Inkubationszeit ist das wichtigste die Geschwindigkeit. Da ist die Corona-Warn-App unschlagbar. Im Übrigen weiß man inzwischen aus Datenspenden von etwa sechs Millionen Corona-Warn-App-Nutzer, dass sich mehr als 80 Prozent der über die App Gewarnten freiwillig testen lassen und so tatsächlich viele Infektionen frühzeitig entdeckt wurden.
Was aber gerade am Anfang nicht besonders gut funktioniert hat, ist, dass Infizierte ihren positiven Corona-Test auch wirklich in der Corona-Warn-App eintragen.
Domscheit-Berg: Von denjenigen, die ihr positives Test-Ergebnis über die Corona-Warn-App erhalten, warnen inzwischen über 70 Prozent ihre Kontakte – das ist erheblich mehr als am Anfang. Das sollte man unbedingt noch steigern. Dafür braucht es Aufklärung. Man muss den Leuten erklären: Das ist anonym, dadurch passiert ihnen nichts. Und man kann Menschenleben retten. Man muss aber verstehen: Für manche Menschen ist ein positives Testergebnis ein Schock. Vielleicht sind sie in dieser Situation abgelenkt und denken nicht an die App. Deshalb ist ein Teil des bisherigen Anstiegs der Warn-Quote auf eine Änderung in der App zurückzuführen. Nach ein paar Stunden erinnert die App daran, das Testergebnis doch noch zu teilen.
Wir reden hier aber nur von den Menschen, die ihr Testergebnis über die Corona-Warn-App erhalten. Viele erhalten das Ergebnis aber auf anderem Wege.
Domscheit-Berg: Ja, und dieses Problem ist größer - liegt aber nicht an der App. Ich höre ständig von Menschen, die beim Testen nicht darauf aufmerksam gemacht werden, dass ihr Ergebnis an die App geschickt werden kann. Außerdem sind dafür zwei Dinge nötig. Einmal muss man einen QR-Code auf einem Zettel, den man von Arzt bekommt, mit der App scannen – so kann die App das Ergebnis später vom zentralen Server herunterladen. Leider reicht das noch nicht. Es braucht noch einen zweiten Zettel, der von der Arztpraxis ans Labor geht. Da muss ein Kreuz gesetzt sein, das dem Labor erlaubt, das Testergebnis an den Server zu schicken. Wenn das Kreuz fehlt, steht in der App die ganze Zeit, das Ergebnis wäre noch nicht da. Das frustriert natürlich. Da habe ich schon oft gehört, dass deswegen Menschen die App deinstalliert haben. Das sind Prozessprobleme, um die sich seit Monaten nicht ausreichend gekümmert wird.
Aber auch, wenn ich ein positives Ergebnis über einen anderen Weg erhalte, kann ich das in der App eintragen.
Domscheit-Berg: Dafür gibt es eine Verifikationshotline. Da kann man anrufen, die stellen einem ein paar Fragen und dann bekommt man einen Code, den man in der App einträgt und so seine Infektion melden kann. Da ist die Hürde aber höher, das scheint für viele Menschen zu aufwändig zu sein, obwohl diese Informationen alle auch in der App selbst stehen. Deshalb müsste man das dringend so einfach wie möglich machen.
Es gibt auch Pläne, einen digitalen Corona-Impfpass in die App einzubauen. Aber brauche ich denn die App überhaupt noch, wenn ich geimpft bin?
Domscheit-Berg: Selbst eine vollständige Impfung ist ja kein hundertprozentiger Schutz. Mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit kann man sich trotzdem infizieren und mit einer ebenfalls geringeren Wahrscheinlichkeit auch andere anstecken. Wenn eine fiese Mutante im Umlauf ist, kommt es auch darauf an: Mit welchem Impfstoff wurde ich geimpft, wie lange ist das her und wie gut hilft das gegen die Mutation? Trotzdem bin ich mir nicht so sicher, was diesen digitalen Impfnachweis angeht. Ich glaube nicht, dass er wie angekündigt bis Ende Juni kommt.
Warum?
Domscheit-Berg: Die Hürde, einen digitalen Impfpass sicher hinzubekommen, ist einfach zu hoch, um das in zwei Monaten zu schaffen. Hinzu kommen die vielen Millionen Menschen, die schon geimpft sind. Wer soll das alles nachtragen? Das kann ich von den Hausärzten und den Impfzentren nicht verlangen.
Der Impfnachweis ist also nicht unbedingt eine entscheidende Neuerung der App. Wo ist dann noch Verbesserungsbedarf?
Domscheit-Berg: Die sogenannte Broadcasting-Funktion wäre wichtig. Wenn an einem Ort jemand, der sich auf einer Papierliste eingetragen hat, infiziert ist, kann man momentan die App-Nutzer nicht warnen. Ein schönes Feature wäre, wenn das Gesundheitsamt den Ort, also den QR-Code, mit dem sich die Menschen eingecheckt haben, für einen kritischen Zeitraum als Ort der Infektion markieren könnte. Diese Information müsste dann vom zentralen Corona-Warn-App Server an alle Handy-Apps verschickt werden, wo der Abgleich mit den eigenen Daten erfolgt. Wer zur fraglichen Zeit am gleichen Ort war, wird gewarnt. Das müsste vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegeben werden. Ich hoffe, das dauert nicht wieder ein halbes Jahr.
Durch die sinkenden Zahlen und den Impffortschritt denken sich allerdings bestimmt viele Menschen: Jetzt brauche ich die App auch nicht mehr installieren. Was würden Sie denen sagen?
Domscheit-Berg: Das ist wirklich gefährlich. Schon nach der ersten Welle haben viele gedacht, es wäre vorbei, genauso nach der zweiten Welle. Wir haben noch lange keine Herdenimmunität, das wird bis in den Herbst dauern. Es bekommen ja auch nicht alle morgen ihre Impfung. Und Kinder haben noch gar keine Impfmöglichkeit. Es ist gefährlich, in dieser Übergangsphase leichtsinnig zu sein. So haben wir unsere eigentlich gute Situation letzten Sommer verspielt, als die Inzidenzen niedrig waren. Das hat zehntausende Menschen das Leben gekostet. Das hätte man vermeiden können. Deswegen sollte man sich entsprechend verhalten. Dazu gehört auch, die Corona-Warn-App zu installieren.
Zur Person: Linkenpolitikerin Anke Domscheit-Berg, 53, ist Mitglied im Digitalausschuss des Bundestags und netzpolitische Sprecherin ihrer Fraktion.
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