Wir befinden uns im Jahr 2030 und blicken zurück auf das Corona-Jahr 2020 – wie wird das Urteil der Geschichte über die Demokratie ausfallen?
Christoph Möllers: Es wird ein gemischtes Urteil sein – aber die Demokratie wird vielleicht nicht der entscheidende Faktor für die Lösung des Problems der Pandemie sein. Wir sehen, wie unterschiedlich verschiedene Demokratien bislang abschneiden. Bis jetzt haben wir dafür noch keine wirkliche Erklärung.
Welche weiteren Faktoren gibt es?
Möllers: Länder wie Taiwan schneiden gut ab, also eine asiatische Demokratie. Auch China scheint gut zurechtzukommen, wobei wir es da wegen der mangelnden Transparenz der Informationen nicht sicher wissen können. Die USA wiederum haben bislang nicht viel hinbekommen, und sind auch im Hinblick auf den Zustand ihrer Demokratie höchst problematisch. Europa liegt irgendwo im Mittelfeld. Wenn alles vorbei ist, wird sich ein komplexes Bild über Grenzen, Bevölkerungsdichte und viele andere Faktoren ergeben.
Sehen Sie im demokratischen politischen Prozess – den Hürden des Föderalismus, der mangelnden Einbindung des Parlaments oder der Verletzung von Grundrechten – ein Problem?
Möllers: Es gab sicherlich Probleme, insbesondere mit der Einbindung der Parlamente, zum Beispiel in Deutschland. Normalerweise haben wir bemerkenswert hohe Standards für die Einbindung des Parlaments, dafür, welche Entscheidungen vom Parlament getroffen werden müssen. Die gerieten etwas aus dem Blick. Es gab sehr offene Normen, die nicht bestimmt genug waren, um die erheblichen Einschränkungen der Grundrechte zu rechtfertigen.
Was kann man aus dieser Krise darüber lernen, wie man die Demokratie sinnvoll verändern oder anders denken könnte?
Möllers: Wir sprechen jetzt schon seit Jahrzehnten über Nachhaltigkeit – aber diese Krise hat uns gelehrt, dass Nachhaltigkeit etwas sehr Konkretes ist. Es geht dabei nämlich eigentlich um die eigene Freiheit. Sie ist nichts Abstraktes. Es geht darum, dass wir unser Zuhause nicht verlassen können und gewissermaßen eingesperrt sind – weil wir nicht nachhaltig genug gedacht haben. Das ist eine wichtige Lektion.
Und was könnte daraus folgen?
Möllers: Wir müssen stärker über langfristige Planungen nachdenken – nicht als Einschränkung unserer Freiheit, sondern als deren Sicherung. Der gesamte bislang ziemlich bürokratische Prozess der Planung für zukünftige Krisen muss geöffnet werden. Er muss politisiert werden. Wir müssen verschiedene Bedrohungen der Freiheit, verschiedene Bedrohungen des Lebens miteinander vergleichen. Nur wenn wir einen gewissen Grad an Vollständigkeit erreicht haben, wenn wir Dinge vergleichen können, können wir sie auch politisieren.
Chronologie der Corona-Pandemie 2020 in Eilmeldungen
Mehr als 600 Eilmeldungen hat die Deutsche Presse-Agentur bis Dezember 2020 allein zum Corona-Virus gesendet. Die Überschriften dokumentieren die Zeitspanne von den ersten Hinweisen auf eine Ausbreitung der Viruserkrankung bis zu den jüngsten Erfolgen bei der Impfstoffentwicklung. Ein Überblick:
Januar
22.1. WHO ruft wegen Virus in China vorerst keine "internationale Notlage" aus
24.1. Zwei Fälle der neuen Lungenkrankheit in Frankreich nachgewiesen
28.1. Erster Coronavirus-Fall in Deutschland bestätigt
30.1. Coronavirus in China: WHO erklärt internationale Notlage
Februar
15.2. Frankreich meldet ersten Coronavirus-Todesfall in Europa
22.2. Italien will mit Coronavirus betroffene Städte abriegeln
29.2. Erster Coronavirus-Todesfall in den USA
März
9.3. Coronavirus: Landrat meldet ersten Todesfall in Deutschland
11.3. WHO bezeichnet Verbreitung des neuen Coronavirus als Pandemie
12.3. USA erlassen wegen Coronavirus 30-tägigen Einreisestopp aus Europa
12.3. CDU verschiebt Parteitag wegen Corona-Krise
12.3. Merkel: Wegen Coronavirus auf Sozialkontakte weitgehend verzichten
12.3. Bund und Länder: Ab Montag alle planbaren Operationen verschieben
13.3. UEFA stoppt vorerst Spielbetrieb im Fußball-Europapokal
13.3. NRW schließt nächste Woche alle Schulen
(plus 14 weitere Eilmeldungen zu Schulschließungen in anderen Bundesländern)
13.3. DFL: Fußball-Bundesliga stellt Spielbetrieb vorerst ein
13.3. Trump ruft wegen Coronavirus nationalen Notstand aus
16.3. Regierung schlägt Schließung von Läden vor - Supermärkte aber offen
17.3. Maas startet Rückholaktion für im Ausland festsitzende Deutsche
17.3. Bundesregierung spricht weltweite Reisewarnung aus
17.3. Fußball-EM wegen Coronavirus um ein Jahr verschoben
17.3. Nur noch EU-Bürger sollen nach Deutschland reisen dürfen
18.3. Österreich kontrolliert ab Mitternacht Grenze zu Deutschland
19.3. Coronavirus-Pandemie: Italien meldet mehr Tote als China
21.3. Mietern soll in Krise nicht gekündigt werden dürfen
22.3. Bund und Länder wollen Restaurants unverzüglich schließen
24.3. IOC bestätigt: Olympia in Tokio wird verschoben
25.3. Historisches Hilfspaket in Corona-Krise beschlossen
27.3. Corona-Pandemie: Italien meldet fast 1000 Tote an einem Tag
April
2.4. Weltweit mehr als eine Million nachgewiesene Coronavirus-Infektionen
6.4. Kreise: Zwei Wochen Quarantäne bei Rückkehr nach Deutschland
6.4. Corona-Infektion: Britischer Premierminister auf Intensivstation
15.4. Bund will Öffnung von Geschäften bis 800 Quadratmeter ermöglichen
15.4. Schulstart in Deutschland schrittweise ab 4. Mai geplant
17.4. Spahn: Ausbruch ist beherrschbar geworden
21.4. Saison in Handball-Bundesliga abgebrochen
22.4. Erste klinische Studie zu Corona-Impfstoff in Deutschland zugelassen
23.4. Merkel: Länder in Corona-Krise teils zu forsch
28.4. Nun bundesweite Maskenpflicht auch im Einzelhandel
30.4. Betriebe melden für 10,1 Millionen Menschen Kurzarbeit an
Mai
5.5. Wirtschaftsminister der Länder wollen Gastronomieöffnung ab 9. Mai
6.5. Bund will Öffnung aller Geschäfte in Corona-Krise erlauben
6.5. Politik erlaubt Geisterspiele der Fußball-Bundesliga ab Mitte Mai
13.5. Bundesregierung beschließt Lockerung der Grenzkontrollen
15.5. Deutsche Wirtschaft bricht in der Corona-Krise ein
26.5. Bund und Länder einig: Kontaktbeschränkungen bis 29. Juni
Juni
9.6. Deutscher Export bricht im April um mehr als 30 Prozent ein
16.6. Offizielle Corona-Warn-App steht zum Download bereit
17.6. Großveranstaltungen werden mit Ausnahmen bis Ende Oktober verboten
17.6. Schulen sollen nach Sommerferien wieder komplett öffnen können
23.6. Zahlreiche Einschränkungen nach Corona-Ausbruch bei Tönnies
25.6. EU-Kommission genehmigt Rettungspaket für Lufthansa
29.6. Bundestag beschließt Mehrwertsteuersenkung und Familienbonus
Juli
3.7. Arznei Remdesivir erhält europäische Zulassung für Covid-19
7.7. Brasiliens Präsident Bolsonaro mit Coronavirus infiziert
22.7. Corona-Tests bei Einreise aus Risikogebieten sollen Pflicht werden
30.7. Deutsche Konjunktur bricht dramatisch ein
30.7. Historischer Konjunktureinbruch in den USA wegen Corona-Krise
August
11.8. Putin: Russland lässt Impfstoff gegen Coronavirus zu
14.8. Reisewarnung des Auswärtigen Amts für fast ganz Spanien samt Mallorca
27.8. Bund und Länder: Großveranstaltungen bis Ende des Jahres verboten
September
29.9. Feiern in öffentlichen Räumen auf 50 Teilnehmer beschränkt
30.9. Neue Corona-Risikogebiete in elf europäischen Ländern
Oktober
2.10. US-Präsident Trump und First Lady positiv auf Coronavirus getestet
7.10. Länder: Beherbergungsverbot für Reisende aus Risikogebieten
8.10. Corona-Neuinfektionen in Deutschland steigen sprunghaft auf über 4000
14.10. Beschluss: Sperrstunde um 23 Uhr für Gastronomie in Corona-Hotspots
14.10. Bund und Länder wollen striktere Kontaktbeschränkungen in Hotspots
14.10. Frankreich führt Gesundheitsnotstand wieder ein
15.10. RKI meldet Rekordwert bei Corona-Neuinfektionen in Deutschland
21.10. Gesundheitsminister Spahn positiv auf Corona getestet
26.10. CDU-Spitze verschiebt Parteitag zur Vorsitzendenwahl ins nächste Jahr
28.10. Bund und Länder: Beginn von Kontaktbeschränkungen am 2. November
28.10. Bund und Länder wollen Gastronomiebetriebe vorübergehend schließen
November
2.11. Teil-Lockdown startet: Öffentliches Leben wird heruntergefahren
9.11. Biontech veröffentlicht vielversprechende Daten zu Corona-Impfstoff
16.11. Auch US-Konzern Moderna legt positive Daten zu Corona-Impfstoff vor
16.11. Bund und Länder appellieren: Keine privaten Feiern mehr
18.11. Bundestag beschließt Änderungen beim Infektionsschutzgesetz
25.11. Private Zusammenkünfte werden auf fünf Personen begrenzt
25.11. Bund und Länder lockern Kontaktbeschränkungen für Weihnachten
30.11. Moderna will Zulassung für Corona-Impfstoff in EU beantragen
Dezember
1.12. Biontech und Pfizer beantragen EU-Zulassung für Corona-Impfstoff
2.12. Biontech und Pfizer: Großbritannien lässt Corona-Impfstoff zu
2.12. Bund und Länder: Teil-Lockdown wird bis in den Januar verlängert
9.12. Verfassungsschutz Baden-Württemberg beobachtet "Querdenken"-Bewegung
12.12. Corona-Impfstoff von Biontech und Pfizer erhält US-Notfallzulassung
13.12. Bund und Länder beschließen harten Lockdown ab dem 16. Dezember
13.12. Bund und Länder beschließen Versammlungsverbot an Silvester
13.12. Möglichst keine Schul- und Kita-Besuche ab Mittwoch bis 10. Januar
13.12. Bund erhöht Corona-Finanzhilfen für Unternehmen
19.12. Corona-Impfstoff von Moderna erhält Notfallzulassung in den USA
21.12. EMA empfiehlt erste Zulassung eines Corona-Impfstoffs in der EU
21.12. EU-Kommission genehmigt Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer
22.12. Bayern führt Corona-Testpflicht für Reisende aus Risikogebieten ein
(dpa)
Ein zentraler Begriff bei all dem ist die Freiheit – die Grundlage der liberalen Ordnung und der Demokratie selbst. Sie scheinen nun eine andere Art des Denkens über Freiheit anregen zu wollen, die Veränderung des Freiheitsbegriffs selbst, ist das richtig?
Möllers: Freiheit ist ein offener Begriff voller innerer Widersprüche. Auf der einen Seite steht die körperliche und eher kurzfristige Freiheit, der Befriedigung unserer Bedürfnisse nachzugehen. Auf der anderen Seite gibt es die kollektive Freiheit – die viel abstrakter und weitreichender ist. Die Pandemie zeigt, dass Freiheit nur durch langfristiges Denken geschützt werden kann. Das gilt auch für den Klimawandel, der nächsten Herausforderung, vor der wir stehen. Wir haben ihn bisher kaum unter dem Gesichtspunkt der Freiheit diskutiert. Ich glaube, dass es sich lohnt, diesen Gedanken in den weiter gefassten Rahmen dessen einzubringen, was wir eigentlich unter Freiheit verstehen.
Verglichen mit dem, was Sie individuelle und kollektive Freiheit sagen, scheint im gegenwärtigen liberalen Diskurs ein recht beschränktes Verständnis von Freiheit vorzuherrschen.
Möllers: Wenn man sich den Stammbaum der liberalen Freiheitsbegriffe ansieht, stellt man fest, dass wir oft einen sehr engen Begriff von Liberalismus verwenden. Für Denker wie John Stuart Mill im 19. Jahrhundert oder später John Dewey war es selbstverständlich, dass Freiheit kollektives Handeln ermöglicht, das auf der Entscheidungsfindung des Einzelnen beruht.
Das ist irgendwie in Vergessenheit geraten.
Möllers: Die Pandemie hat gezeigt, dass wir uns sehr genau ansehen müssen, welche Handlungsweisen tatsächlich durch individuelle Rechte und Freiheit geschützt sind. Dann stellt man fest, dass es ein Verständnis von Freiheit gibt, das nur den Schutz dessen vorsieht, was man bereits besitzt. Was perverse Effekte erzeigt. Warum schützen Grundrechte das Erbrecht , aber kein Recht auf einen Kindergartenplatz? Wir müssen darüber nachdenken, wie wir kollektives Handeln in den individuellen Rechten institutionalisieren können. Wir müssen kollektive Probleme und kollektive Bedürfnisse in unsere Vorstellung individueller Rechte einbeziehen.
Freiheit ist auch ein zentrales Element in der Konzeption von Marktwirtschaft, die wir Kapitalismus nennen.
Möllers: Ja, der Kapitalismus ist ein zentrales Thema in den Debatten über Freiheit, und ich sehe ihn sehr ambivalent. Natürlich hat es etwas sehr Liberales, wenn man alles schützt, was man besitzen will. Alles andere wäre auf die eine oder andere Art moralisierend. Aber der Kapitalismus ist auch ein Problem und einer der Gründe, warum wir derzeit mit den Rechten des Einzelnen so kurzsichtig umgehen. Es gibt viele Denktraditionen, die einen anderen Begriff von Freiheit haben, Traditionen des Republikanismus. Man muss nicht alles neu erfinden, um ein umfassenderes Konzept der individuellen Rechte und ein stärker handlungsorientiertes Konzept der kollektiven demokratischen Praxis als Teil eines umfassenderen Freiheitsbegriffs zu etablieren.
Kollektive Freiheit impliziert Verantwortung – ein Wert, der in der liberalen Tradition verlorengegangen zu sein scheint. Wie könnte man ihn neu entwickeln?
Möllers: Die Pandemie hat diesen Diskurs über Verantwortung neu belebt. Und es ist wichtig, individuelle Entscheidungen in Bezug auf die Pandemie als verbunden mit Fragen der Solidarität zu denken. Wir handeln gemeinsam als demokratische Gemeinschaft. Wir blicken nicht zum Staat in Erwartung seiner Befehle. Aber es wäre ein Missverständnis, Solidarität mit der Aufforderung zu verwechseln, die Regierung nicht zu kritisieren. Wir müssen eine offene Debatte darüber führen, wie uns der Umgang mit der Krise gelungen ist. In Deutschland gibt es eine große Mehrheit, die die Entscheidungen der Regierung unterstützt – aber wir haben oft keine ausgeprägte Kultur des Dissens. Das macht es schwierig, eine klare Trennlinie zu ziehen zwischen Leuten, die die Maßnahmen kritisieren, und den verrückten Spinnern oder Leugnern der Krise.
Ist Konsens noch immer das Ziel der Demokratie, so wie man es im Deutschland der Nachkriegszeit gelernt hat?
Möllers: Wir ringen immer noch mit der Polarisierung. Die westdeutsche Gesellschaft war ein ausgesprochen konsensuelles Projekt. Dieser Konsens endete in gewisser Weise mit dem Aufstieg der AfD. Aber eigentlich formuliert die AfD keinen Dissens. Sie stellt eine Opposition gegen das System dar und will die liberale Demokratie abschaffen. Der Punkt ist: Wir sind nach wie vor keine heftigen Konflikte innerhalb des Systems gewohnt. Wir brauchen heftige Konflikte, die einem Mindestmaß an liberaler Demokratie verpflichtet bleiben.
Eine letzte Frage. Könnten Sie diesen Satz vervollständigen: Für mich ist diese Pandemie etwas Persönliches, weil ...?
Möllers: Ich gute Gründe dafür brauche, dass ich meine Freunde nicht treffen kann.
Christoph Möllers ist Professor für Verfassungsrecht an der Humboldt Universität zu Berlin und Senior Advisor von "The New Institute".
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Dieses Interview ist in Kooperation mit The New Institute entstanden. Das Institut ist eine Neugründung in Hamburg, deren Ziel die Gestaltung gesellschaftlichen Wandels ist. Von Herbst 2021 an werden hier bis zu 35 Fellows aus Wissenschaft, Aktivismus, Kunst, Wirtschaft, Politik und Medien gemeinsam leben und an konkreten Lösungen für die drängenden Probleme in den Bereichen von Ökologie, Ökonomie und Demokratie arbeiten. Gründungsdirektor ist Wilhelm Krull, akademische Direktorin für den Bereich der ökonomischen Transformation ist Maja Göpel. The New Institute ist eine Initiative des Hamburger Unternehmers und Philanthropen Erck Rickmers.
Alle bisher erschienenen Teile der Serie finden Sie auf unserer Übersichtsseite.