Sein Blick geht Richtung Himmel, mit einer Hand umklammert er den schwarzen Schirm, mit der anderen Hand versucht er, sein Sakko zusammenzuziehen. Es ist kalt an diesem Dienstagmittag in Berlin. Herbststimmung der ungemütlicheren Sorte. Einer der wartenden Journalisten fragt Armin Laschet, wie es ihm geht. „Regnet“, sagt er knapp und läuft weiter. Drinnen wartet die Grünen-Spitze auf ihn, es soll sondiert werden, ob nicht doch eine Bundesregierung unter Führung der Union möglich ist. Eine Bundesregierung mit Laschet als Kanzler. Eine, die all das ausradieren könnte, was in den vergangenen Wochen und Monaten geschehen ist. Falls der Mann mit dem schwarzen Schirm zu diesem Zeitpunkt noch so etwas wie Hoffnung haben sollte – er kann sie gut verbergen.
Nur einen Tag später geben sowohl die Grünen als auch die FDP bekannt, dass sie sich entschieden haben: Die SPD ist der bevorzugte Koalitionspartner. Natürlich sei Jamaika damit noch nicht ausgeschlossen, beeilen sich sowohl Robert Habeck als auch Christian Lindner zu versichern. Doch Laschet dürfte spätestens jetzt klar geworden sein, dass er allenfalls noch als Druckmittel für die Verhandlungen der anderen taugt: Um beim jeweiligen Gesprächspartner möglichst viel herauszuholen, hält man den Zombie Jamaika künstlich am Leben, obwohl längst kein Puls mehr messbar ist. Obwohl Markus Söder die lebenserhaltenden Maschinen längst abgeschaltet hat, indem er erklärt, dass Jamaika aus seiner Sicht erledigt ist.
Die Karriere von Armin Laschet ist beendet
Mit Jamaika aber ist auch Armin Laschets Karriere erledigt. Und mehr noch: Der 60-Jährige wurde nicht nur als Politiker, sondern auch als Mensch regelrecht demontiert. Aus einem respektierten Ministerpräsidenten – ein bisschen langweilig vielleicht, aber doch insgesamt sehr solide – ist innerhalb weniger Monate eine öffentliche Witzfigur geworden. Live und in Farbe hat die Republik mitverfolgt, wie sich parallel zum Absturz der Union ein persönliches Drama abgespielt hat. Wie konnte das nur geschehen?
Peter Neumann ist niemand, dem man große Zimperlichkeit unterstellen kann. Seit Jahren erklärt er der Welt die Gefahren des islamistischen Terrorismus, weiß als Professor in seiner Wahlheimat London ganz genau, wie es ist, im Fokus zu stehen. Doch in den vergangenen Wochen geriet er in einen regelrechten Sturm. „Sobald ich Mitglied von Armin Laschets Zukunftsteam war, wurde ich für Teile der Öffentlichkeit zu einem legitimen Ziel und wurde angegriffen“, sagt der gebürtige Würzburger.
Neumann gehört zu der eilig zusammengetrommelten Mannschaft aus Fachleuten und Politikern, die Laschets Kampagne auf den letzten Drücker noch einmal Schwung geben soll. Damit verändert sich nicht nur der öffentliche Blick auf ihn. Auch er selbst schlüpft in eine andere, eine ungewohnte Rolle. In Debatten auf Twitter mischt er sich schon seit Jahren regelmäßig ein, sehr differenziert, sehr unaufgeregt. Doch nun muss Neumann in den Wahlkampfmodus schalten. „Alles an ihm ist fake. Ich glaube ihm kein Wort“, schreibt er zum Beispiel über den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. Wahlkampf lässt keinen Raum für Differenzierung. Die Folge: Neumann sieht sich massiven Anfeindungen ausgesetzt. Dabei ist ihm natürlich bewusst, dass das, was ihm da passiert, nur ein Bruchteil dessen ist, was Laschet selbst aushalten muss. „Diese Häme, dieser Spott – jeden Tag, nonstop.“ Aus allem, was der CDU-Chef gesagt, getan oder nicht getan habe, sei ihm ein Strick gedreht worden. Klar, wer für so ein Amt kandidiert, muss damit rechnen, dass es auch mal schmutzig wird. Wie es sich tatsächlich anfühlt, weiß man erst, wenn man es selbst erlebt.
Ole von Beust über Armin Laschet: "So ein Wahlkampf geht an die Substanz"
Ole von Beust kann sich gut in die Lage seines Parteifreundes Laschet hineinversetzen. Als Erster Bürgermeister von Hamburg stand er viele Jahre in der ersten Reihe. „Man tut als Politiker ja immer so, als ließe man sich von schlechten Umfragewerten oder negativen Schlagzeilen nicht beeindrucken. Das ist natürlich Quatsch. So ein Wahlkampf geht an die Substanz“, sagt von Beust. Bei Laschet sei noch etwas anderes hinzugekommen: „Seine Berater und die Medien haben ihm gesagt, er wirke in seiner fröhlichen rheinländischen Art nicht führungsstark genug. Also ist er in Interviews etwas aggressiver geworden und prompt hieß es, er habe die Contenance verloren. In der Schlussphase konnte er machen, was er wollte, es war immer falsch. Das war in höchstem Maße ungerecht.“
Tatsächlich kann man an Laschets Gesicht die Spuren und Narben dieses Jahres ablesen. Von dem freundlich lächelnden Mann, der im Januar nach einer optimistischen Rede, in der er den Zusammenhalt der Gesellschaft beschwört, zum CDU-Chef gewählt wird, ist in diesen kühlen Herbsttagen nicht mehr viel zu sehen. Laschet wirkt schon im Endspurt des Wahlkampfs oft gereizt, selbst im Interview mit Kindern kann er nicht verbergen, wie dünn das Nervenkostüm geworden ist.
„Um Politik über einen langen Zeitraum machen zu können, brauchen Sie schon ein sehr starkes Naturell. Denn die ganzen Auseinandersetzungen und Anfeindungen finden ja in aller Öffentlichkeit statt“, sagt von Beust, der 2010 von einem Tag auf den anderen Schluss gemacht hat.
Für den Wissenschaftler Neumann kam diese Härte im politischen Alltag überraschend. Er kennt Laschet seit Jahren, hat ihn bereits 2017 im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen unterstützt. Der Aachener sei damals sehr beliebt gewesen, erinnert er sich. Er habe zurecht als volksnah gegolten, ging auf die Menschen zu. Doch genau jene Stärken werden mit dem Einstieg in den Bundestagswahlkampf zu Schwächen umgedeutet: Die rheinische Frohnatur erscheint auf einmal doch eher schlicht im Gemüt, karnevalsprinzig statt weltoffen, geschwätzig statt nahbar. Laschet wollte für einen modernen Konservativismus stehen – nun steht er für alles Gestrige in seiner Partei. Wo bei Angela Merkel die Methode „Sie-kennen-mich“ funktionierte, verdrehen die Zuschauer bei Laschet die Augen und tragen das von CSU-Chef Söder aufgebrachte Wort des „Schlafwagen-Wahlkampfes“ weiter. Wie im Kinderspiel „Stille Post“ erwächst so aus der ursprünglichen Botschaft ein Zerrbild mit teils absurden Zügen. „Im Internet wurde auf einmal an diesem Narrativ gestrickt: Armin Laschet der Tollpatsch, Armin Laschet der Glücklose, Armin Laschet der Idiot“, sagt Neumann.
"Natürlich hat Armin Laschet auch Fehler gemacht"
Noch nicht einmal er als jemand, der dem Kandidaten wohlgesonnen ist, will ernsthaft behaupten, dass die Ursachen für diese Entwicklung allein bei anderen zu suchen seien. „Natürlich hat Armin Laschet auch Fehler gemacht“, sagt Neumann. Das Lachen während der Steinmeier-Rede an die Flutopfer sei ein solcher Fehler gewesen. Die dünnhäutige Reaktion auf die Fragen der Kinder-Reporter hätte nicht passieren dürfen. Aber die vielen kleinen Pannen, die in einem aufreibenden Wahlkampf mit dutzenden Terminen nun mal passieren könnten, seien bei Laschet unverhältnismäßig aufgeblasen worden. Etwa, als er die Befreiung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch die GSG9 nicht in Mogadischu, sondern in Landshut verortete – ein offensichtlicher Versprecher. Oder als er den Mauerfall ins Jahr 1990 verschob – der Hitze des Gefechtes geschuldet.
Der verhöhnte Kanzlerkandidat fühlt sich ungerecht behandelt – und zeigt das auch. Fehlt ihm in den entscheidenden Momenten das nötige dicke Fell? Ex-Politiker von Beust sieht das nicht so: „Auch als Politiker darf man Fairness erwarten und der Umgang mit Armin Laschet war unfair. Politiker sind Menschen und keine Automaten. Wie in sozialen Netzwerken sein unglückliches Lachen im Flutgebiet ausgeschlachtet wurde, war nicht gerecht. Er ist weder überheblich noch zynisch. Aber genau so wurde er dargestellt.“
Irgendwann im Sommer war der Moment gekommen, in dem die Stimmung nicht mehr zu drehen war. Immer neue handwerkliche Fehler, zu wenige Botschaften, zu viele Peinlichkeiten. Die Union lässt sich aus dem Tritt bringen, scheint verlernt zu haben, wie Wahlkampf funktioniert. Ruiniert ist der Ruf schnell, ihn wiederherzustellen umso mühsamer. Erst recht in einer Zeit, in der soziale Netzwerke die politischen Debatten so stark prägen. In der sich jede und jeder ständig bemüßigt fühlt, vernichtende Urteile über Menschen zu fällen, die man nie gesehen hat. Mehr Polarisierung, mehr Likes. Und weiter geht es in die nächste digitale Rauferei.
Neumann bewegt sich normalerweise sehr souverän auf Plattformen wie Twitter. Nun spürt er plötzlich, dass jedes Mal, wenn er dort die SPD und deren Kanzlerkandidaten kritisiert, eine Lawine an Gegenreaktionen losrollt. „Ich kannte das so nicht“, sagt er. „Ich bin ja nicht Barack Obama mit hundert Millionen Followern, bei denen jeder Tweet sofort etwas auslöst.“ Er vermutet, dass so etwas wie eine Organisation, eine Kampagne dahintersteckt. „Damit will ich jedoch keinesfalls sagen, dass das alles von der SPD organisiert ist“, betont Neumann. Im Nachrichtendienst Telegram habe er aber immer wieder beobachtet, wie sich Gruppen verabreden, dort bewusst Parolen vervielfältigt hätten. Neumann weiß freilich: Auch eine negative Kampagne ist nur dann wirklich erfolgreich, wenn sie an wunde Punkte anknüpfen und diese bewusst größer machen kann. „Einer der wunden Punkte in der Union war immer, dass die Partei Armin Laschet nicht geschlossen unterstützt und Markus Söder ihn jeden zweiten Tag unterminiert hat“, sagt der Wissenschaftler im Rückblick auf die turbulenten Wochen. Auch bei Laschets Vertrauten steigt der Blutdruck schlagartig, wenn die Sprache auf den CSU-Chef kommt.
Armin Laschets Vertraute leiden mit ihm
In Nordrhein-Westfalen gibt es viele Parteifreunde, die sich dem Noch-Ministerpräsidenten nicht nur politisch, sondern auch menschlich verbunden fühlen. Die mit ihm leiden, die nicht fassen können, wie wenig das öffentliche Bild des Kanzlerkandidaten mit jener Person verbindet, die sie kennen und mögen. Für Laschets Vertraute steht fest: Der erbitterte Machtkampf mit Söder um die Kanzlerkandidatur war der Anfang vom Ende. Damals im April wird aus dem Gewinner Laschet, der in NRW aussichtslos gestartet war und doch Ministerpräsident wurde, der sich im Rennen um den CDU-Vorsitz gegen Alphatiere wie Friedrich Merz, Norbert Röttgen und Jens Spahn durchsetzte, eine Notlösung. Ein angeschlagener Boxer, der sich mit letzter Kraft in den Ring rettet, noch bevor der Kampf ums Kanzleramt überhaupt begonnen hat.
Auch nach dem dramatischen Duell um die Kandidatur lässt der Franke den Rheinländer immer wieder spüren, dass er selbst sich für den Besseren hält. Die Sticheleien aus München zeigen Wirkung. Söder kennt die Schwachpunkte seines Rivalen – und sorgt immer wieder, mal mehr, mal weniger subtil dafür, dass alle anderen sie auch kennenlernen. Wer sich in Laschets engstem Umfeld umhört, bekommt in diesen Tagen sehr deutliche Worte zu hören. Und es dauert meist nur ein paar Sekunden, bis Söder und dessen Querschüsse zum Thema werden. Dass der CSU-Chef die Option Jamaika nun ohne Not beerdigt hat, ist für viele der endgültige Beweis dafür, dass es ihm von Anfang an vor allem um sich selbst gegangen sei. Nach dem Motto: Wenn ich schon nicht Kanzler werde, dann soll es auch kein anderer aus unserem Laden werden.
Markus Söder hebt spät den Daumen für Armin Laschet
Wie sehr die CSU bisweilen tatsächlich um sich selbst kreist, wird auf ihrem Parteitag in Nürnberg im September deutlich. Dort verordnet Söder spontane Begeisterung für Laschet. Als der Kanzlerkandidat dann tatsächlich minutenlang gefeiert wird, prägt der CSU-Vorsitzende ein neues Bild: Jetzt, da wir den Daumen für ihn nicht gesenkt, sondern gehoben haben, hat Laschet doch noch eine Chance. Wir in Bayern haben die Stimmung gedreht.
Laschet lässt all das ins Leere laufen. Es ist seine Stärke und Schwäche zugleich, dass er Gegner einzubinden versucht, anstatt sie kaltzustellen. Er will es allen recht machen und macht es am Ende niemandem mehr recht. Nach der vergeigten Wahl sind es die gleichen Widersacher wie vorher, die es nicht schaffen, wenigstens eine Woche stillzuhalten. Die öffentliche Abrechnung beginnt. Parteifreunde, die vorgeben, nur das Wohl der CDU im Sinn zu haben, kommen aus der Deckung. Jens Spahn, Norbert Röttgen, immer wieder Friedrich Merz. Und natürlich Markus Söder.
Noch ist Laschet da. Noch klammert er sich an die vage Hoffnung, dass die Ampelverhandlungen vielleicht doch noch scheitern und er dann... Aber ganz tief drinnen weiß er, dass die Sache gelaufen ist. Auf einem Parteitag soll sich die CDU neu aufstellen. Und dann? Als Ministerpräsident zurück in die Heimat kann er nicht, dort ist sein Erbe schon geregelt. Es bleibt ihm nur das Bundestagsmandat. Ein Platz irgendwo im Plenum, statt ganz vorne auf der Regierungsbank. Machtlos. Martin Schulz, dem glücklosen SPD-Kanzlerkandidaten, war es vor vier Jahren genauso ergangen. „Anders als andere in seiner Partei, die regelrecht vom Ehrgeiz zerfressen sind, wird es Laschet nicht seelisch zerstören, wenn er nicht Bundeskanzler wird“, ist Neumann sicher.
Ole von Beust hat das alles schon hinter sich. Er verließ die große Bühne freiwillig, weil er spürte, wie er mit den Jahren im Scheinwerferlicht immer dünnhäutiger geworden war. „Manchmal muss man auch an sich selbst als Mensch denken und nicht nur an sich als Politiker“, sagt er heute und fügt hinzu: „Wir sind es gewohnt, getrieben zu sein. Von der eigenen Partei, vom politischen Gegner, von Wahlergebnissen oder Medien. Umso wichtiger ist es, in solchen Situationen das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Selbst entscheiden. Nicht andere über das eigene Leben bestimmen lassen.“ Wenigstens dieses eine Mal.