Kundus gehörte bisher zum Standardprogramm der Besuche deutscher Verteidigungsminister in Afghanistan. Die gefährlichste Provinz im Norden des Landes ist auf bittere Weise zu einem Schicksalsort der Bundeswehr geworden. Viele Soldaten, die die einigermaßen sicheren Mauern des dortigen Feldlagers verlassen haben, sind nicht lebend zurückgekehrt; andere wurden schwer verletzt. Kundus bedeutet für die meisten Bundeswehrsoldaten schlicht und ergreifend Krieg.
Auch Verteidigungsminister Thomas de Maizière war bei seinen ersten beiden Afghanistan-Reisen in Kundus. Für seinen dritten Besuch gestern ließ er sich etwas anderes einfallen. Er besuchte Orte, von denen in Deutschland bisher kaum jemand etwas gehört hat: Maimana, Hasrat-i-Sultan und das Camp „Northern Light“ in Masar-i-Scharif. Nur in Maimana war überhaupt schon einmal ein deutscher Verteidigungsminister gewesen. Dort haben die Norweger das Kommando, in „Northern Light“ sind es die Schweden. „Wir tragen Verantwortung auch für die Soldaten dieser Nationen“, sagt de Maizière. Insgesamt stehen in Nordafghanistan Soldaten aus 18 Ländern unter deutschem Kommando.
In Maimana bekam de Maizière einen Eindruck davon, dass Kundus bei Weitem nicht die einzige Problemregion im Norden ist und dass die Erfolgsmeldungen der Isaf aus den letzten Monaten nur die halbe Wahrheit sind. Die Norweger legten ihrem Gast aus Deutschland mit rot und rosa eingefärbten Karten eindrucksvoll dar, wie sich die Aufständischen seit 2006 in der Provinz Stück für Stück breitgemacht haben. „Bad News“ – schlechte Nachrichten – lautete der kurze Kommentar des Ministers am Ende des Vortrags.
Einen der Erfolge der Afghanistan-Strategie konnte er dagegen in Hasrat-i-Sultan besichtigen. Inmitten der relativ ruhigen Provinz Samangan haben Bundeswehrpioniere aus Minden im Frühjahr eine Kaserne für die afghanischen Streitkräfte aufgebaut. 400 bis 600 afghanische Soldaten sollen von dort aus die umliegenden Gebiete kontrollieren. Bis sie dazu voll und ganz in der Lage sind, werden sie von rund 100 Bundeswehrsoldaten „gecoacht“. Die afghanische Armee ist mit 12000 Soldaten im Norden fast schon genauso stark wie die Isaf. 15000 Soldaten sollen es einmal werden.
Der Besuch bei den Isaf-Verbündeten und im afghanischen Feldlager kurz vor dem 10. Jahrestag des Beginns des internationalen Einsatzes am Hindukusch war mehr als eine freundliche Geste de Maizières. Er hat auch einen politischen Hintergrund. In den nächsten Monaten muss der Minister den Beginn des Abzugs der Bundeswehr aus Afghanistan vorbereiten. Dieser Prozess erfolgt in drei Schritten: Erst müssen sich die USA entscheiden, wie viele Soldaten sie aus dem Norden abziehen. Dann stimmen die 18 Truppensteller gemeinsam das weitere Vorgehen ab. Erst danach soll die Entscheidung im Kabinett und im Bundestag über die Truppenreduzierung fallen. Das wird spätestens im Januar 2012 sein, vielleicht aber auch schon im Dezember.
Im Moment ist der Prozess noch in Stadium eins: Warten auf die Amerikaner. Dabei wächst die Ungeduld. Anfang Oktober treffen sich die Nato-Verteidigungsminister in Brüssel. Dann sollen möglichst erste Vorentscheidungen fallen. Eine Reduzierung um 500 Soldaten in einem ersten Schritt ist im Gespräch. Vielen Militärs geht das zu weit. Sie fürchten, dass die Erfolge der letzten Jahre im Kampf gegen die Taliban gefährdet werden könnten. Auch in der Bundeswehr wird eine schnelle Truppenreduzierung äußerst skeptisch gesehen. Derzeit ist Deutschland mit mehr als 5000 Soldaten der drittgrößte Truppensteller am Hindukusch. Ende 2014 sollen keine internationalen Kampftruppen mehr dort stationiert sein.
Zwei Drittel der Bevölkerung sind für einen sofortigen Abzug
Etwa zwei Drittel der Bevölkerung hingegen sind den jüngsten Umfragen zufolge für einen sofortigen Abzug. Den Spagat zwischen militärischer Notwendigkeit und öffentlicher Meinung wird de Maizière noch eine Weile aushalten müssen. Der Minister machte klar, dass er über den Abzug in erster Linie nach militärischen und nicht nach politischen Kriterien entscheiden will. „Ich brauche dazu einen fachlichen Rat. Das kann keine politisch von oben gesetzte Zahl sein.“ dpa