Bundeskanzler ist Olaf Scholz noch nicht, aber eines hat er schon erreicht. Der 63-Jährige ist in den Deutschen Bundestag eingezogen. In der ablaufenden Legislaturperiode hatte er ja keinen Sitz im Parlament. Bevor er für seine SPD Finanzminister und Vizekanzler der Großen Koalition wurde, amtierte er als Erster Bürgermeister von Hamburg. Jetzt kehrt Scholz, der bereits von 1998 bis 2011 Abgeordneter war, in die Fraktion zurück. In seinem Wahlkreis Potsdam hatte er das Direktmandat geholt – klar gegen Annalena Baerbock von den Grünen, die wie er bei dieser Bundestagswahl mit dem Anspruch angetreten war, ins Kanzleramt einzuziehen. Scholz kann darauf noch hoffen, Baerbock nicht.
SPD-Fraktion ist nach der Bundestagswahl größer, jünger, weiblicher und ostdeutscher
Dienstagfrüh trifft sich die von 153 auf 206 Abgeordnete angewachsene SPD-Truppe zum ersten Mal – nicht wie üblich auf der Fraktionsebene, sondern im Plenarsaal des Bundestags. Auch die ausscheidenden Kollegen sind dabei, es ist eine emotionale Veranstaltung, berichten Teilnehmerinnen. Weiblicher, jünger und ostdeutscher ist die künftige SPD-Riege, mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder ist neu, alle stellen sich kurz vor.
Manche bekommen besonders viel Applaus: Frank Ullrich, Ex-Biathlon-Olympiasieger, der in Südthüringen gegen CDU-Rechtsaußen Hans-Georg Maaßen gewann. Armand Zorn aus Frankfurt, gebürtiger Kameruner, als Siebtklässler nach Deutschland gekommen. Und Anna Kassautzki, die 27-Jährige, die im Gegensatz zu Scholz schon eine echte Merkel-Nachfolgerin ist: Sie holte im früheren Wahlkreis der Kanzlerin in Vorpommern das Direktmandat.
Olaf Scholz gewinnt Wahlkreis Potsdam - seine Vorstellung im Bundestag ist betont locker
Der Mann, der Merkel nach 16 Jahren an die Spitze der Regierung nachfolgen will, so dringt nach draußen, stellt sich etwa so vor: Er heiße Olaf Scholz, sei Anwalt für Arbeitsrecht, heute Finanzminister und freue sich auf eine gute Zusammenarbeit. Das sorgt für Heiterkeit. „Jetzt kucken wir, was noch kommt“, fügt Scholz an. Was kommt, das ist die Frage die alle im Saal umtreibt – Kanzlersessel oder Oppositionsbank? Dass der Neuling in den kommenden vier Jahren einfacher Abgeordneter bleibt, will niemand in der Fraktion, am allerwenigsten er selbst.
Denn die SPD hat am Sonntag die Union, wenn auch knapp, so doch klar hinter sich gelassen. Nun will sie ihren Spitzenkandidaten Scholz auch als Regierungschef sehen. Doch das geht nur in einem Bündnis mit Grünen und FDP. Die werden aber auch vom glücklosen Unions-Bewerber Armin Laschet (CDU) umgarnt.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich: Armin Laschet soll Niederlage akzeptieren
Vor Sitzungsbeginn macht Fraktionschef Rolf Mützenich, der aller Voraussicht nach an diesem Mittwoch im Amt bestätigt wird, den Führungsanspruch der SPD noch einmal deutlich: „Armin Laschet muss endlich einsehen, dass er nicht das Vertrauen der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger bekommen hat.“ Laschet sei der Wahlverlierer, er gebe dem Land keine Gewissheit und keinen klaren Kurs. Mützenich will schnell geordnete Verhältnisse schaffen, erste Annäherungstreffen mit Grünen und Liberalen schon in diesen Tagen herbeiführen. „Grüne und FDP sind von uns eingeladen worden, mit uns, wenn sie wollen, auch in dieser Woche bereits Sondierungsgespräche zu führen“, sagt er.
Die SPD sei bereit, „nicht nur schnelle, sondern auch verlässliche Gespräche zu führen“. Fragen von roten Linien in den Gesprächen, also Inhalten, die nicht verhandelbar sind, stellten sich gerade nicht für seine Partei, sagt Mützenich. Klar sei allerdings, dass für die SPD der Mindestlohn, bezahlbarer Wohnraum und ein Umbau der Wirtschaft im Hinblick auf die Klimakrise wichtig seien. Er bekräftigte: „Wir werden nicht in der Öffentlichkeit Koalitionsverhandlungen führen.“
Vorbereitung auf Sondierungsgespräche laufen in SPD-Zentrale auf Hochtouren
Die inhaltlichen Vorbereitungen für den Sondierungs-Auftakt laufen in der SPD-Bundeszentrale auf Hochtouren. Zentrale Frage ist: Wo gibt es Gemeinsamkeiten mit den Grünen und der FDP? Beide Wunschpartner wollen sich ja zunächst einmal untereinander auf Gemeinsamkeiten abklopfen. Gerade die Liberalen, die Mindestlohn und Steuererhöhungen ablehnen, werden nicht so leicht zu überzeugen zu sein – das ist allen Genossen klar. So gibt Generalsekretär Lars Klingbeil folgende Linie für die Gespräche vor: „Unser Angebot ist Olaf Scholz.“
Der Spagat, der dem Kanzlerkandidaten gelingen muss: FDP-Chef Christian Lindner ein unwiderstehliches Angebot machen, dass auch die SPD-Linke mittragen kann. An Kompromissbereitschaft scheint es nicht zu fehlen, über alle Flügel der Sozialdemokraten hinweg ist die Angst groß, dass sich sonst die Union noch in den Vordergrund spielt. Etwa indem sie nicht Laschet, sondern CSU-Chef Markus Söder in die Kanzler-Spur setzt.
Privat-Sondierungsgespräche zwischen SPD, Grünen und FDP in Bundestags-Kantine bei Fisch in Currysauce
Führen sollen die Verhandlungen auf SPD-Seite neben Scholz, Mützenich und Klingbeil die beiden Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sowie Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Doch es gibt nicht nur den offiziellen Weg der Annäherung. Viele Abgeordnete von SPD, Grünen und FDP kennen sich, etwa aus der Heimat, schätzen sich aus gemeinsamer Gremienarbeit. Informell glühen die Drähte seit dem Wahlabend, Glückwünsche werden ausgetauscht, unverbindliche Treffen verabredet. In der Bundestags-Kantine, Tagesgericht ist Fisch in Currysauce auf Reis, bilden sich am Dienstag erste interfraktionelle Tischrunden.