Und dann steht das grüne Traumpaar vereint auf der Bühne, als wäre nichts geschehen: Annalena Baerbock und Robert Habeck. Sie war angetreten, um Kanzlerin zu werden. Er wollte Kanzler werden, doch sie hatte sich im internen Duell durchgesetzt. Jetzt stehen unter dem Strich wohl rund 15 Prozent, wenn die Hochrechnungen vom Abend halten. Historisch ist es das beste Ergebnis, aber nur halb so stark wie die stärksten Umfragen im Frühjahr.
Ist das Glas halb voll oder halb leer? Bei keiner anderen Partei als den Grünen stellt sich die Frage nach der Wahl mit solcher Vehemenz. Legt man den Jubel bei der Wahlparty in der Berliner Columbia-Halle über die ersten Zahlen als Maßstab an, ist man auch nicht schlauer. Es kommt gesteigerter Applaus, Freudenrufe, doch Euphorie oder Ekstase brechen nicht aus. Wer angetreten ist, um die Welt zu verändern, für den ist der Bronzeplatz nicht genug.
Im Frühjahr war Annalena Baerbock an den Start gegangen, um die Macht zu erobern. Und es sah im Frühjahr für wenige Wochen so aus, als könnte das tatsächlich klappen. Doch die 40-Jährige hat verloren, wenn sie an diesen, ihren eigenen Ansprüchen gemessen wird. „Wir wollten mehr. Das haben wir nicht erreicht. Auch aufgrund eigener Fehler“, ruft Baerbock an diesem für sie bitteren Abend in den Konzertsaal, den die Grünen gemietet haben.
Habeck über Baerbock: „Eine Kämpferin, ein Löwenherz“
„Aaaanna-Leeena“ schreien die Grünen-Mitglieder schließlich doch im Chor wie im Fußballstadion. Habeck applaudiert sanft von der Seite, knuddelt sie kurz. „Eine Kämpferin, ein Löwenherz“, sagt Habeck über die geschlagene Kanzlerkandidatin. Sie muss an diesem Abend nicht mehr fürchten, dass ihre Partei sie abserviert. Baerbock reklamiert eine gewichtige Position für die Grünen in der nächsten Bundesregierung. „Wir haben einen Auftrag“, sagt sie und betont mehrfach, dass er bei den anstehenden Sondierungen mit den anderen Parteien gemeinsam angegangen werden soll. Gemeinsam heißt mit Habeck. Dass die Grünen an der Regierung beteiligt sein werden, ist so gut wie sicher. Es winken Ministerposten, aber der Schlüssel zum Kanzleramt, den bekommen andere.
Weil sie auf Sieg gespielt hat und diesen schließlich so klar verfehlt, ist dieser Wahlausgang Baerbocks persönliche Niederlage. Schon wenige Wochen nach ihrer gelungenen Kür, als sie die Titelseiten der Zeitungen und Zeitschriften schmückte, ging es bergab für sie. Es sind eigene Fehler, und bei den anderen Parteien schüttelt man freudig verwundert den Kopf, wie diese vermeidbaren Patzer passieren können. Schnitzer Nummer 1 sind die bei der Bundestagsverwaltung zu spät gemeldeten Einkünfte, die ihr die Partei als Co-Vorsitzende zahlt. Für die Grünen wiegt das schwer, weil sie stets die Moral auf ihrer Seite wähnen und gegen die Union wegen der Skandale um die Beschaffung von Corona-Masken hart ausgeteilt haben.
Als der erste Schnitzer halbwegs verarbeitet war, kommt der nächste ans Licht. Baerbock hat ihren Lebenslauf aufgeblasen, in mehreren Positionen hat sie sich zu mehr gemacht, als sie eigentlich war. Um intellektuell zu wirken, hatte Baerbock zudem eilig ein Buch über ihre Vision für Deutschland zusammengebastelt. Ein Plagiatsjäger entdeckte abgeschriebene Stellen. Die schon schwer mitgenommenen Grünen schrien Rufmord und beauftragten einen bekannten Rechtsanwalt mit der Gegenwehr.
Landtagswahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern: Zweimal erfolgreich
Es sollte nichts mehr nützen. Anderthalb Monate nach ihrer Kür und vor Beginn der heißen Wahlkampfphase hatte Baerbock ihre Glaubwürdigkeit ruiniert. Zu keiner Zeit vermochten die Strategen der Grünen der Kampagne neuen Schwung zu verleihen. Dass der Abend für Baerbock keiner der Abrechnung wird, hat auch mit den Landtagswahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zu tun. Wider Erwarten führt die Augsburgerin Bettina Jarasch am Abend die Prognosen an, obwohl die Spitzenkandidatin vielen Berlinerinnen und Berlinern lange unbekannt war. Vor der Wahl hatten die Demoskopen die SPD in der Hauptstadt vorne gesehen.
In Mecklenburg-Vorpommern hat es die Partei seit jeher schwer und saß bislang nicht im Landtag. Nach den vorläufigen Zahlen haben die Grünen den Einzug in das Parlament geschafft. Auch hier also ein Erfolg im Vergleich zur vorigen Wahl. Aber das urgrüne Kernanliegen des Umweltschutzes und des Kampfes gegen den Klimawandel sind heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die verheerenden Fluten in Westdeutschland haben noch einmal dem ganzen Land vor Augen geführt, dass Wirtschaft und Gesellschaft komplett umgebaut werden müssen, um den Ausstoß an Kohlendioxid zu senken. Diese historische Chance haben die Grünen nicht genutzt. Eingedenk der Tatsache, dass bei der nächsten Bundestagswahl in vier Jahren wahrscheinlich wieder ein Kanzler sein Amt verteidigen wird und der Amtsbonus sich zuletzt immer stärker ausgewirkt hat, könnte es lange dauern, bis die Grünen wieder nach der Spitze greifen können.