Kollaps im Bundestag: Nach dem Zusammenbruch zweier Kollegen diskutieren Abgeordnete über die Frage, ob ihre Belastung nicht zu hoch ist. Dabei geht es auch um die Rolle der AfD, die regelmäßig für Nachtschichten im Parlament sorgt. Ist der Abgeordneten-Alltag gar „unmenschlich“, wie die Linken-Politikerin Antje Domscheit-Berg beklagt?
Es ist Donnerstag um 10.20 Uhr, als es unter der gläsernen Reichstagskuppel zu dramatischen Szenen kommt. Der CDU-Abgeordnete Matthias Hauer steht am Rednerpult und spricht zu einem AfD-Antrag zum „Schutz des Bargelds“. Plötzlich erleidet der 41-Jährige einen Schwächeanfall, muss von Kollegen gestützt und ins nahe Krankenhaus Charité gebracht werden. Später meldet er sich, es gehe ihm schon besser. Doch am frühen Abend erleidet auch die Linken-Abgeordnete Simone Barrientos, 56, einen Schwächeanfall. Unter anderem der Arzt und CSU-Abgeordnete Stephan Pilsinger ist zur Stelle und leistet Erste Hilfe.
Nicht selten geht es im Bundestag bis weit nach Mitternacht
Im Gespräch mit unserer Redaktion will sich Pilsinger zu den beiden Notfällen nicht äußern, das verbiete schon die Schweigepflicht. Doch er sagt: „Ganz allgemein herrscht in den Sitzungswochen eine extrem hohe Belastung. Im Bundestag geht es nicht selten bis weit in die Nacht. Das heißt, dass die Abgeordneten oft nur drei oder vier Stunden Schlaf bekommen, denn um 9 Uhr geht es ja wieder weiter.“
Es seien ja nicht nur die Plenarsitzungen, so der Münchner: „Viele Bürger sehen nicht, was im Hintergrund alles passiert, in den Gremien, in der Fraktion, bei sonstigen Terminen. Ich beobachte schon, dass manche Abgeordnetenkollegen nur unregelmäßig essen und trinken. Das geht an die Substanz.“ Dass die Sitzungen oft so lange dauern, hat für Pilsinger „natürlich auch mit der AfD zu tun“. Früher seien Reden zu Themen, bei denen Einvernehmen herrscht, meist zu Protokoll gegeben worden. Die AfD aber bestehe darauf, zu allen auch zu sprechen. „Ich denke, denen geht es dabei vor allem darum, Material für ihre Videoclips zu produzieren. Das führt zu den langen Nachtsitzungen“, sagt Pilsinger. Sein Rezept: „Wir müssen dringend etwas an der Geschäftsordnung machen. Eine oder mehrere zusätzliche Sitzungswochen könnten den engen Terminplan entzerren. Außerdem sollten wir überlegen, die Debattenzeiten zu verkürzen.“
Andere Fraktionen suchen nach Gegenmitteln zur AfD-Taktik
Auch die Bundestagssitzung, die am Donnerstagmorgen um 9 Uhr begonnen hat, zieht sich bis weit nach Mitternacht. Gegen 1.45 Uhr soll dann noch über eine Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes abgestimmt werden. Die AfD-Fraktion zweifelt die Beschlussfähigkeit des Parlaments an und beantragt deshalb eine namentliche Abstimmung. Weil nur noch 133 Abgeordnete anwesend sind, wird die Sitzung abgebrochen. Um beschlussfähig zu sein, hätten mehr als die Hälfte der 709 Abgeordneten da sein müssen.
Darüber, was sie der AfD-Taktik, lange Nachtsitzungen zu provozieren, entgegen setzen können, beraten Vertreter der übrigen Fraktionen bereits seit längerem. Carsten Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, sagt unserer Redaktion: „Wir sind seit einiger Zeit in Gesprächen, um die Abläufe der Plenardebatten zu überarbeiten.“ Dabei gehe es nicht nur um die Abgeordneten, sondern auch um die Belastungen für die Mitarbeiter im Parlament. „Wir werden den Mittwoch für zusätzliche Debattenzeiten nutzen und dadurch die langen Nachtsitzungen am Donnerstag verkürzen“, so Schneider.
Da werden Erinnerungen an Merkels Zitterattacken wach
Die Belastungen im Polit-Geschäft waren auch schon im Sommer Gegenstand von Debatten, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) von Zitteranfällen betroffen war. An den Spekulationen über die Ursachen will sich Stephan Pilsinger, der Arzt und CSU-Politiker, nicht beteiligen. Im Moment sei bei Merkel von Schwäche aber „absolut nichts zu spüren“. Pilsinger sagt: „Die Bundeskanzlerin hat eine extreme Kondition. In dieser Hinsicht ist sie nicht mit den meisten Menschen zu vergleichen. Sie kommt ja mit vier Stunden Schlaf aus.“
Am Donnerstagabend hastet ein bekannter Abgeordneter der Unionsfraktion vom Berliner Bahnhof Friedrichstraße zum Reichstagsgebäude. Der Mann wirkt übernächtigt und gehetzt. Bis zur nächsten namentlichen Abstimmung sind es nur noch wenige Minuten. „Das ständige Theater um die Große Koalition, die aufgeheizte Stimmung im Plenarsaal, die Morddrohungen gegen Politikerkollegen, das alles schlägt schon aufs Gemüt“, seufzt er im Vorbeigehen. Der altgediente Politiker, der seinen Namen in diesem Zusammenhang nicht in der Zeitung lesen will, sagt: „Die Stimmung im Bundestag war lange nicht so schlecht wie heute.“
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