Der Kirchenraum ist viel zu klein. Die Thomas-Morus-Kirche im Rostocker Stadtteil Evershagen, in der die Gläubigen normalerweise stets genügend Platz finden, platzt an diesem Abend aus allen Nähten. Die Bänke sind längst voll, doch noch immer strömen Menschen in das schlichte Gotteshaus am Rande der Plattenbausiedlung. Sie alle kommen nur wegen eines Mannes - ihres früheren Pastors Joachim Gauck.
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Für einen Abend ist er in seine alte Gemeinde zurückgekommen, mehr als 20 Jahre nach seinem Weggang. Entsprechend groß ist die Wiedersehensfreude. Beim Pastor wie seinen einstigen Schäfchen. Hier ein freudiges "Hallo", dort ein herzliches "Wie geht's?" und da ein überraschtes "Lange nicht mehr gesehen".
Die Freude ist echt und herzlich. Und doch ist es nicht allein seine Vergangenheit als früherer Pastor von Evershagen, die die Rostocker an diesem Juni-Abend in Scharen in die Thomas-Morus-Kirche strömen lässt, sondern mehr noch seine Gegenwart als frisch gekürter Präsidentschaftskandidat von SPD und Grünen. Bei vielen ist die Hoffnung spürbar, dass er, der Außenseiter, der Nicht-Politiker, der frühere Seelsorger, Revolutionspfarrer und Herr über die Stasi-Akten, vielleicht doch am 30. Juni in das höchste Amt im Staate gewählt wird.
Die Lesung aus seinen eben erst erschienenen Erinnerungen "Winter im Sommer, Frühling im Herbst" in seiner alten Heimatgemeinde an der Ostsee war schon seit Langem geplant. Und Gauck, der schlanke, hochgewachsene und drahtige Mecklenburger, im Januar 70 Jahre alt geworden, kommt trotz seiner überraschenden Kandidaten-Kür mit geradezu preußischem Pflichtbewusstsein seinen Verpflichtungen nach. Auch wenn die Öffentlichkeit und die Medien nun wissen wollen, was er als Bundespräsident anders als sein zurückgetretener Vorgänger machen will und was er beispielsweise zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan sagt - an diesem Abend will Joachim Gauck einfach nur Joachim Gauck sein, im Kreise von Menschen, die ihn kennen und schätzen. "Wir treffen uns als Veränderte wieder", sagt er nachdenklich, bevor er mit seiner Lesung beginnt.
Rostock-Evershagen. Wer Joachim Gauck kennenlernen und seinen unermüdlichen Einsatz für die Freiheit verstehen will, wird hier fündig. Zwischen 1969 und 1978 stampfte das SED-Regime diesen Stadtteil auf halbem Wege zwischen der alten Hansestadt Rostock und dem Ostseebad Warnemünde aus dem Boden. In typischer Plattenbauweise entstanden 8700 Wohnungen für 22 000 Menschen. In die begehrten Neubauten zogen vor allem die Arbeiter der nahe gelegenen Neptun- und Warnowwerft sowie des Diesel-Motorenwerkes.
Als der junge Pastor Gauck hier 1971 seine Arbeit aufnahm, nachdem er zuvor in der kleinen, beschaulichen mecklenburgischen Landgemeinde Lüssow tätig war, fehlte es an allem. Es gab keine Gemeinde, keine Mitglieder, keine Kirche, kein Pfarrbüro, nicht einmal ein Pfarrhaus. Gauck zog mit seiner sechsköpfigen Familie in eine der Plattenbauwohnungen, mitten unter Menschen, die von der Kirche überwiegend nichts wissen wollten.
"Der sozialistische Staat hat uns als seinen Gegner gesehen", erzählt Arvid Schnauer, Pastor im Ruhestand, drei Jahre älter als Gauck, den er seit einem halben Jahrhundert kennt. Einst betreute er die Nachbargemeinde in Groß Klein. "Wir waren Missionare. Im wahrsten Sinne des Wortes. Man musste schauen, wie man eine Gemeinde zusammenbekommt und wie man die Jugend gewinnt." Die Bibelstunden fanden in Privatwohnungen statt, die Gottesdienste ebenso, erst 1983 wurde die Thomas-Morus-Kirche samt Gemeindezentrum gebaut, die sich Katholiken und Protestanten brüderlich teilen.
Schon damals stellte Joachim Gauck seine Fähigkeit unter Beweis, auf die Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören, sie mit seinem Charme und seinem Charisma einzunehmen und für seine Sache zu begeistern. "Er ist schon immer ein Brückenbauer und Menschenfischer gewesen", schwärmt Jochen Schmachtel, 13 Jahre jünger als dieser, einst Gaucks Nachfolger als Rostocker Stadtjugendpfarrer und heute Pastor in Schönberg.
Gauck, so erzählt Schmachtel, habe die einzigartige Gabe, die Gedanken und Worte seines Gegenübers aufzunehmen und sie mit seinen eigenen Gedanken zu verbinden, sodass sich der Andere in seiner Ansicht bestärkt fühle. "Er kann das zu Seinem machen, bündeln und in Worte fassen, sodass sich jeder darin wiederfindet."
Arvid Schnauer und Jochen Schmachtel, die beiden Weggefährten, sind sich einig: "Er war ein exzellenter Prediger." Ein Mann des Wortes, radikal, überzeugend, mitreißend. "Er hat's im Kopf", sagt Schmachtel.
Nie war diese Gabe wertvoller als in den bewegten Tagen des Wendeherbstes 1989, als der beliebte Kreis- und Stadtjugendpastor quasi aus dem Stand zum Rostocker "Revolutionspfarrer" aufstieg - zum Wortführer der friedlichen Revolution in der Hansestadt.
Kamen zum ersten Fürbittgebet am 5. Oktober 1989 noch etwa 500 junge Leute in die Petrikirche, waren es eine Woche später schon 5000 in der völlig überfüllten Marienkirche. Und mittendrin Joachim Gauck, der Prediger der Freiheit. "Die Studenten lagen ihm zu Füßen", erinnert sich Jochen Schmachtel. Seine Botschaft sei ebenso einfach wie eindringlich gewesen: "Das Gegenteil von Glauben ist Angst. Er ist ein Prediger des Glaubens und spricht gegen die Angst."
Arvid Schnauer, der im Wendeherbst 1989 ebenfalls an vorderster Front in Rostock stand, erzählt: "Gauck hatte die Gabe, den richtigen Tonfall zu treffen und die Leute mitzunehmen auf seinem Weg der Freiheit." Warnungen, er dürfe die Jugendlichen nicht aufputschen, ignorierte er, sein Freiheitsdrang war übermächtig. "Der Westen war immer sein Thema", so Schnauer.
Vom Pastor in Evershagen zum Staatsoberhaupt in Schloss Bellevue? In der Plattenbausiedlung an der Warnow finden viele diesen Gedanken reizvoll, obwohl die wenigsten ihn noch aus seiner Zeit als Pastor kennen. "Der Gauck, das ist ein Guter", meint eine Mutter, die ihren Sohn von der Kindertagesstätte abholt, "nicht so ein Politiker wie die anderen."
Auch seine alten Weggefährten sind sich einig, dass das Amt des Bundespräsidenten zu Gauck passe. "Der kann das verkörpern", sagt Jochen Schmachtel. "Er ist sehr klug und sehr beweglich, er versteht die Menschen und spricht sie an, seine Art zu reden ist hervorragend", sagt Arvid Schnauer, auch wenn beide übereinstimmend bemängeln, dass Gauck schon immer viel über die Freiheit, aber wenig über die Gerechtigkeit gesprochen habe. Nicht zuletzt habe es ihm noch nie an Selbstbewusstsein, gepaart mit Eitelkeit, gemangelt. Es gebe bei ihm, sagt Schmachtel, "eine Riesenspur an Narzissmus": "Er will leuchten." Martin Ferber