Die zurückgetretenen Bundespräsidenten Horst Köhler und Christian Wulff waren Geschöpfe der Bundeskanzlerin. Es war Angela Merkel, die den Finanzfachmann Köhler aus dem Hut gezaubert hat. Es war Angela Merkel, die Wulff gegen den von Rot-Grün und vom Volk favorisierten, nun doch noch zum Zug kommenden Kandidaten Joachim Gauck durchgedrückt hat. In beiden Fällen hat Merkel aus parteipolitischem Kalkül gehandelt und die Wahl des Präsidenten zu einer Demonstration des schwarz-gelben Machtanspruchs genutzt. In beiden Fällen hat Merkel kein glückliches Händchen bewiesen.
Wulff hat vor Anforderungen des Amtes versagt
Köhler ist, nach immerhin sechs Jahren im Amt, davongelaufen. Wulff hat vor den Anforderungen des Amtes versagt. Merkel, die führende Politikerin Europas, steht zur Stunde so hoch im Kurs, dass ihr Ansehen unter dem Scheitern des von ihr allzu lange beschützten Parteifreundes Wulff nicht gelitten hat. Doch ein weiterer Fehlgriff wäre ihr ebenso schlecht bekommen wie der Versuch, die Besetzung des höchsten Staatsamtes wieder nur im kleinsten schwarz-gelben Führungszirkel auszukarten und dann mit der Brechstange in der Bundesversammlung durchzusetzen.
Zitate von Joachim Gauck
"Unsäglich albern" (16.10. 2011, zur Finanzmarkt-Debatte)
"Das wird schnell verebben." (16.10.2011, zur internationalen Protestbewegung "Occupy")
"Wir träumten vom Paradies und wachten auf in Nordrhein-Westfalen." (24.06.2010, über die Ernüchterung vieler Ostdeutscher über das Leben im wiedervereinigten Deutschland)
"Ich würde in der Tradition all derjenigen Bundespräsidenten stehen, die sich gehütet haben, die Politik der Bundesregierungen zu zensieren. Mancher wünscht sich ja einen Bundespräsidenten wie einen Kaiser, als letzte Instanz über allem - das darf er nicht sein." (25.6.2010, bei seinem ersten Anlauf zur Präsidentschaft im Fernsehsender n-tv über sein Amtsverständnis.)
"Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten." (3.10.2010 bei einer Feierstunde im Berliner Abgeordnetenhaus zum Einheits-Jubiläum)
"Denn als Bürger der DDR haben ich und viele andere Menschen im ganzen Osten Europas Ohnmacht erlebt und trotz Ohnmacht Ähnliches geschafft: Es gibt ein wahres Leben im falschen.". (10.10.2010 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den israelischen Schriftsteller David Grossmann)
«Verantwortung ist dem Untertan meistens fremd. Was er am besten kann, ist Angst haben.» (1999 über Furcht vor der Freiheit bei Menschen in Ostdeutschland)
"Wir sind nicht dazu da, vor dem Verbrechen zu kapitulieren und vor dem Unheil zu flüchten." (29.11.2010, vor der Entgegennahme des Geschwister-Scholl-Preises)
„Er hat über ein Problem, das in der Gesellschaft besteht, offener gesprochen als die Politik.“ (2011 über Thilo Sarrazin und sein Buch über Migrationspolitik.
«Es schwächt die Schwachen, wenn wir nichts mehr von ihnen erwarten.» (3.10.2010 bei einer Feierstunde zum Einheits-Jubiläum)
"Wir dürfen uns von den Fanatikern und Mördern nicht unser Lebensprinzip diktieren lassen." (27.7.2011, bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele gegen die Einschränkung von Freiheitsrechten aus Sicherheitsaspekten als Reaktion auf Terror)
"Geben Sie mir einfach noch ein wenig Zeit." (17.2.2012, auf die Frage eines Reporters, ob er bereit für eine Kandidatur als Bundespräsident sei)
Also hat Merkel diesmal den Weg der parteiübergreifenden Verständigung eingeschlagen, der nach zwei Rücktritten binnen zwei Jahren ohnehin geboten war. Sie suchte nach einem Kandidaten, der nicht von vorneherein polarisiert und von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen gemeinsam auf den Schild gehoben werden kann. Eine Persönlichkeit, mit der Regierung und Opposition gut leben können.
Das ist Joachim Gauck
Bundespräsident Joachim Gauck hat ein bewegtes Leben hinter sich. Seine wichtigsten Stationen.
Gauck kommt 1940 in Rostock zur Welt. Sein Vater ist Kapitän, seine Mutter gelernte Bürofachfrau. Sein Vater wird von den Russen wegen angeblicher Sabotage in einem Lager in Sibirien verschleppt, als Gauck sechs Jahre alt ist. Er kommt erst viele Jahre später wieder frei.
Nach dem Abitur studiert Joachim Gauck Theologie in Rostock und arbeitet dann ab 1967 als Pastor in Lüssow. Sein eigentlicher Berufswunsch Journalist zu werden, lässt sich in der DDR nicht erfüllen.
Ab 1974 wird Joachim Gauck wegen seiner kritischen Predigten von der Stasi beobachtet.
Als sich in der DDR Ende der achtziger Jahre Widerstandsgruppen formieren, wird Gauck Mitbegründer und Sprecher des „Neuen Forums“. Er leitet unter anderem Gottesdienste und führt Großdemonstrationen an.
Das Ende des DDR-Regimes und die Wendezeit nennt Gauck die "prägende Zeit meines Lebens".
1990 leitet er als Abgeordneter der frei gewählten DDR-Volkskammer den Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit.
Am Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 übernimmt Joachim Gauck die nach ihm benannte Stasi-Unterlagen-Behörde. Bis zum Jahr 2000, als er die Leitung an Marianne Birthler abgiebt, avanciert Gauck zum bekanntesten Gesicht der DDR-Demokratiebewegung.
Nach dem Mauerfall trennt sich der Theologe von seiner Frau und findet eine neue Lebenspartnerin aus dem Westen - eine Journalistin aus Nürnberg. Bis heute sind beide nicht miteinander verheiratet.
2003 wird Joachim Gauck aus den Reihen der FDP erstmals als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Spiel gebracht.
2005 wird Joachim Gauck, damals 65 Jahre alt, Ehrendoktor der Universität Augsburg.
Der Vater von vier Kindern und mehrfache Großvater engagiert sich auch im Verein „Gegen Vergessen für Demokratie“. Als Vorsitzender kümmert er sich zusammen mit vielen Mitstreitern um die Aufarbeitung der Geschichte der Diktaturen in Deutschland.
Im Sommer 2010 wird er von SPD und Grünen zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten nominiert. Dass er bei der durch Horst Köhlers Rücktritt nötig gewordenen Wahl knapp an Wulff scheitert, ändert nichts an seiner Beliebtheit.
2011 sorgt Gauck für Schlagzeilen, als er Thilo Sarrazin für sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ Mut attestiert. „Er hat über ein Problem, das in der Gesellschaft besteht, offener gesprochen als die Politik“, sagte Gauck, wobei er sich den den Inhalten des Buches distanzierte.
Nach dem Rücktritt von Christian Wulff wird Gauck von Union, FDP, Grünen und SPD zum gemeinsamen Kandidaten für die Wahl eines neuen Bundespräsidenten nominiert.
Am 18. März 2012 wählt ihn die Bundesversammlung mit großer Mehrheit zum Bundespräsidenten, am 23. März wird er vereidigt.
Das frühe Angebot der Opposition zu gemeinsamen Gesprächen, Merkels rasches Eingehen darauf: Das war ein gutes Zeichen für die Bereitschaft der Parteien, das höchste, auf Überparteilichkeit angelegte Amt zur Abwechslung mal aus den Niederungen des Machtkampfes herauszuhalten. Es war eine schwierige Operation, weil jede der beteiligten Parteien ihre Interessen und die Wahlen 2013 im Blick hat und jede auf Geländegewinn aus ist. Auch Bundespräsident ist ein politisches Amt, dessen Besetzung seit jeher die Kräfteverhältnisse im Land widerspiegelt und Spekulationen über künftige Mehrheiten beflügelt. Nachdem das Feld der konsensfähigen Kandidaten gesichtet war und die Verhandlungen schon ins Stocken zu geraten schienen, ist der gordische Knoten doch noch überraschend zügig durchschlagen worden.
Gauck: Merkel sprang über ihren Schatten
Es war ausgerechnet die FDP, die mit ihrem Vorpreschen für Gauck den Durchbruch geschafft und Merkel zum Einlenken gezwungen hat. Es mag sein, dass Merkel Gauck schon vorher auf der Rechnung hatte. Aber erst der Vorstoß der FDP für den Favoriten von SPD und Grünen mitsamt der Gefahr eines Koalitionsbruchs hat Merkel bewogen, über ihren Schatten zu springen und Gauck zu akzeptieren. Sie gibt damit offiziell zu Protokoll, 2010 falsch entschieden zu haben. Das mag peinlich sein und wirkt wie eine Niederlage. Aber es ist doch auch ein Zeichen von Größe, das Merkel nicht zum Nachteil gereichen wird.
Es ist ja eine gute Wahl. Der parteilose frühere DDR-Bürgerrechtler, der Wulff 2010 unterlegen ist und so eindrucksvoll über die Vorzüge der freiheitlichen Ordnung zu reden versteht, hat das Format zum Präsidenten. Er genießt, wie jüngste Umfragen belegen, weiter das Vertrauen der Bevölkerung und ist – von der Linkspartei abgesehen – ein Präsident für alle. Wulff hat nicht das Amt an sich beschädigt, wohl aber das Ansehen dieser Institution geschmälert. Umso mehr braucht es jetzt ein Staatsoberhaupt, das über Autorität und moralische Integrität verfügt und imstande ist, Impulsgeber und Vorbild zu sein. So lautet die Stellenbeschreibung, und Gauck ist der Mann, der den Anforderungen entspricht.