Wohin nur mit dieser Fahne? 47 Jahre flatterte sie vor dem Eingang des Europäischen Parlamentes in Brüssel. Am 31. Januar wurde das britische Banner um Mitternacht eingeholt, als das Vereinigte Königreich die Europäische Union verließ. Jetzt liegt sie im Keller des Hauses der Europäischen Geschichte, keine 100 Meter weit weg von den weiter gehissten Flaggen der 27 Mitgliedstaaten.
Es ist ein gewaltiges Gebäude, das man eigens hergerichtet hat, um hier so etwas wie ein europäisches Gedächtnis unterzubringen. Den Weg dieses Kontinents von der Industrialisierung über zwei Weltkriege bis zur Einigung der Nationen nachzuzeichnen. Ganz oben unterm Dach, wo jeder Rundgang endet, liegt der Inbegriff dessen, was Europa geschaffen hat. Es ist ein gut und gerne fünf bis sechs Meter langes aufgeschlagenes Buch, der „Acquis européenne“, die Sammlung von rund 80.000 Regelungen und Gesetzestexten, mit denen aus verfeindeten Staaten Freunde wurden, die einen gemeinsamen Markt schufen, der Wohlstand für alle und Frieden für jeden schaffen sollte.
Hierher passt die Fahne nicht. Neben dem Dokument für über 70 Jahre Gemeinsamkeit würde das Symbol des Verlustes eines Mitgliedslandes wie ein Affront wirken. Wer den Weg in die oberste Etage geschafft hat und vor dem monumentalen Buch, das der niederländische Architekt Rem Koolhaas geschaffen hat, steht, bekommt eine Ahnung davon, was zwei Partner, die 47 Jahre miteinander verbracht haben, nun trennen müssen: Es sind nicht nur Regeln für den Verkehr, für den Handel mit Waren und Dienstleistungen, für den Umweltschutz, für Finanzdienstleistungen.
200.000 Turnier-Pferde müssen jetzt jedes Mal in Quarantäne
Es geht auch um Kleinigkeiten und Details, an die anfangs niemand gedacht hatte, wie der Vorsitzende des Handelsausschusses im Europäischen Parlament, Bernd Lange darlegt. Er nennt als Beispiel die 200.000 Pferde, die zu Sportveranstaltungen über den Kanal und zurückgefahren werden. „Da sie künftig aus einem Drittstaat kommen, müssten sie mehrwöchige Quarantäne-Bestimmungen und tierärztliche Begutachtungen durchlaufen, was bei einem Sportpferd gar nicht möglich ist.“ Es ist nur ein Beispiel. Ein anderes: Was ist mit den Vertretungen der Europäischen Union rund um den Globus? Die Gebäude gehören den 28 Staaten. Gibt man den Briten nun ein Zimmer zurück?
Diana ist 17 und gehört zu einer Gymnasialklasse, die an diesem Vormittag das Haus der Europäischen Geschichte besucht. Sie kommt aus Coventry. Schon seit einiger Zeit steht sie still vor einem Schaukasten, in dem ein völlig verbogenes und verkohltes Blechspielzeug gezeigt wird. Nach der Bombennacht 1945 wurde es in Dresden gefunden. „Es ist doch gut, dass es Europa gibt“, sagt sie. „Warum haben meine Eltern für den Brexit gestimmt?“
Manche Exponate machen nachdenklich, andere sogar stumm – wie die Augenfarbentafel zur Rassenzuordnung, derer sich die Nationalsozialisten bedienten, eine Leihgabe des Washingtoner Holocaust-Memorial-Museums. Erst weiter oben wird es wieder heller, optimistischer – ein Fiat 500, das erste Mini-Reisemobil, hat dort seinen Platz gefunden. Von Reformen und Aufbruch ist die Rede. Doch dann hängt da dieser Pullover von Rado Ionescu, einem Opfer der Revolution in Rumänien in den achtziger Jahren. Für das Europa von heute wurde viel gelitten und gestorben. Es sind nicht nur die einzelnen Ausstellungsstücke, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern ihre Linie, die unter dem Dach endet und eine einzige Botschaft zu haben scheint: Endlich sind wir zusammen.
Unterhändler müssen die Regeln für die Zeit nach dem Brexit finden
Nur wohin mit der Fahne? „Wir überlegen noch“, heißt es bei den Museumspädagogen, die monatlich viele Besuchergruppen durch das Haus führen. Vor wenigen Monaten, so erzählen sie, habe ein Besucher fünf volle Tage in dem Gebäude verbracht, weil er so „fasziniert von dem Weg Europas“ gewesen sei. Und tatsächlich stößt der Betrachter immer wieder auf faszinierende Dokumente: etwa den Friedensnobelpreis, den die EU im Jahr 2012 verliehen bekam.
Nur ein paar Meter vom Museum entfernt treffen sich Unterhändler aus London und Brüssel, um die Beziehungen nach der Brexit-Übergangsphase zu regeln. Kürzlich hatte der Chef der britischen Delegation und Vertraute von Premierminister Boris Johnson, David Frost, in Brüssel eine Rede gehalten, in der er die EU-Forderung, London solle für faire Wettbewerbsbedingungen die europäischen Standards übernehmen, schlicht umdrehte: Wie würde sich die Gemeinschaft fühlen, wenn sie auf Befehl Londons ihre Gesetze mit denjenigen harmonisieren müsste, die in Westminster erlassen werden? Und was würde Brüssel denken, wenn London darauf bestünde, dass die EU britische Gesetze übernehmen solle?
Im Kern geht es längst um Souveränität und um die Kompetenz, für sein Land eigene Regeln zu beschließen. Der Gesetzeskanon im obersten Stockwerk des Hauses der Europäischen Geschichte erschiene in diesem Denken nicht mehr als Errungenschaft, sondern als Dokument der Zwangsherrschaft. Doch das wäre eine perfide Verdrehung der Tatsachen, weil ein Markt Fairness und gleiche Ausgangsbedingungen braucht. Und auch gleiche Vorgaben, damit die Hersteller statt 27 nationaler Auflagen nur eine europäische beachten müssen. Der Bürokratie, die Märkte mit unterschiedlichen Bedingungen mit sich bringen, wollten die Briten eigentlich entfliehen. Sie werden sie wieder bekommen – als Preis des Brexits. Nein, das Buch bleibt ein Schatz der europäischen Geschichte – egal, wo die Fahne am Ende hängen wird.
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