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Brexit: Wird Boris Johnson wirklich Nachfolger von Theresa May?

Brexit

Wird Boris Johnson wirklich Nachfolger von Theresa May?

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    Da waren sie noch Kollegen im Kabinett: Premierministerin Theresa May und der damalige Außenminister Boris Johnson 2016.
    Da waren sie noch Kollegen im Kabinett: Premierministerin Theresa May und der damalige Außenminister Boris Johnson 2016. Foto: Facundo Arrizabalaga, dpa

    Die Machtzentrale in der Downing Street Nummer zehn inmitten der Metropole London und das beschauliche Dorf Sonning in der englischen Grafschaft Berkshire mögen auf den ersten Blick wie zwei gegensätzliche Planeten wirken. Und doch haben sie eine Sache gemeinsam, die Theresa May in den vergangenen drei Jahren äußerst gelegen kam.

    An beiden Orten ist es ein Leichtes, sich abzuschotten – von der Welt, dem politischen Getöse, dem ständigen Ärger. Hier der offizielle Sitz der Premierministerin, dort das Zuhause der Privatperson May – jenes kleine Dorf mit seinen historischen Häusern und alten Gemäuern, das der englische Dichter James Sadler einmal als „schöner als der Rest“ beschrieb, von Kunst veredelt, von der Natur gesegnet. Seit seinem Loblied im 19. Jahrhundert hat sich an der Idylle kaum etwas geändert. Am Nachmittag zur Tea Time werden noch Kränzchen abgehalten, und sonntags ist die Kirche deutlich voller als anderswo.

    Theresa May wird in Kürze zurück in diese Reinform des Bilderbuch-Englands ziehen. Nicht ganz freiwillig. Sie wurde, das darf man in dieser Deutlichkeit sagen, regelrecht vom Hof gejagt. An diesem Freitag tritt May als konservative Parteivorsitzende zurück und wird nur noch übergangsweise als Premierministerin fungieren, bis ein Nachfolger gefunden ist. Das könnte im Juli der Fall sein.

    Nachfolge von Theresa May: Von 13 Bewerbern sind elf geblieben

    Das Rennen ist eröffnet, seit die 62-Jährige vor zwei Wochen zitternd und unter Tränen vor der berühmten schwarzen Tür mit der Nummer zehn das Unvermeidliche bekannt gab: ihr politisches Ende. Ein Abgeordneter nach dem anderen hob daraufhin die Hand, 13 Bewerber für ihre Nachfolge waren es zwischenzeitlich. Der Scherz ging um in Westminster, dass es bald mehr potenzielle Premierminister als konservative Abgeordnete geben würde. Mittlerweile ist die Zahl auf elf geschrumpft – alle mehr oder minder bereit zum Start der Schlammschlacht um das höchste Amt im Land.

    Nichts anderes dürfte der Wettbewerb werden, der im Reise-nach-Jerusalem-Stil funktioniert. Die konservative Fraktion verkleinert den Kreis sukzessive durch Wahlrunden, bis zwei Kandidaten übrig bleiben. Dann entscheidet die Basis. Ergo: Rund 160.000 Mitglieder bestimmen die Zukunft des 66-Millionen-Einwohner-Landes.

    Zu den aussichtsreichen Kandidaten gehören neben Innenminister Sajid Javid, Außenminister Jeremy Hunt und dem ehemaligen Brexit-Minister Dominic Raab jene altbekannten Haudegen, die schon einmal um den Premierminister-Posten buhlten: Umweltminister Michael Gove, die Ex-Unterhausvorsitzende Andrea Leadsom – und der frühere Außenminister Boris Johnson. Gerade von ihm wird noch die Rede sein.

    Premierminister seit dem EU-Beitritt Großbritanniens

    Die Premierminister seit dem Beitritt Großbritanniens 1973 zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorgängerin der Europäischen Union (EU):

    Edward Heath (1970-1974, Konservative): setzt den EWG-Beitritt Großbritanniens durch.

    Harold Wilson (1974-1976, Labour): in seiner Amtszeit scheitert das erste Referendum für einen Austritt aus der Staatengemeinschaft.

    James Callaghan (1976-1979, Labour): der Pragmatiker hat mit riesigen Wirtschaftsproblemen zu kämpfen.

    Margaret Thatcher (1979-1990, Konservative): die "Eiserne Lady" krempelt das Land um und setzt den "Briten-Rabatt" in Europa durch.

    John Major (1990-1997, Konservative): handelt aus, dass sich London weder an die Sozialbestimmungen des Maastricht-Vertrags halten noch an einer Gemeinschaftswährung teilnehmen muss

    Tony Blair (1997-2007, Labour): akzeptiert, dass der "Briten-Rabatt" in der EU abgeschmolzen wird.

    Gordon Brown (2007-2010, Labour): in seine Amtszeit fällt die große Finanz- und Wirtschaftskrise.

    David Cameron (2010-2016, Konservative): tritt zurück, nachdem die Briten in einem Referendum für den EU-Austritt stimmten.

    Theresa May (seit Juli 2016, Konservative): erklärt im März 2017 offiziell den Austritt ihres Landes aus der EU.

    Theresa May zählte zu den EU-Befürwortern

    Es wirkt, als wäre dieses Land nie durch die Tumulte der letzten Jahre gegangen; als hätte es Theresa May nie gegeben; als hätten die qualvollen Verhandlungen mit der EU und die noch qualvolleren Abstimmungen im Unterhaus nie stattgefunden. Vielmehr könnte man meinen, mit einer Zeitmaschine zurück in die Vergangenheit zu reisen, in den schicksalhaften Sommer 2016. Zurück auf Los, nur dass kaum jemand wagt, eine neue Karte zu ziehen. Wie wird das Gefecht dieses Mal ausgehen?

    Vor drei Jahren herrschte monatelang ein schmutziger Wahlkampf. Mit fiesen Intrigen und einer Skrupellosigkeit, die selbst Shakespeare erröten hätte lassen, stießen sich die Protagonisten des Dramas – Gove, Leadsom und Johnson – auf offener Bühne die Messer in die Rücken. Am Ende stand nur noch Theresa May auf dem Feld. Die Frau, die zwar offiziell zu den EU-Befürwortern zählte, sich im Wahlkampf aber weitgehend zurückhielt, galt als „sichere Wahl“ und sollte die Rolle der Versöhnerin übernehmen zwischen den Brexit-Befürwortern und den Modernisierern in der Tory-Partei sowie im Rest des tief gespaltenen Königreichs. Dieser Schritt darf als gescheitert bezeichnet werden.

    Sie gehörte schon als langjährige Innenministerin zu den bekanntesten Politikern, bevor sie dann ins höchste Amt aufstieg. Und doch blieb sie auch in den vergangenen drei Jahren weitgehend unbekannt. Wenn sie doch mal den Menschen May durchschimmern ließ und aus Wahlkampfgründen etwa mit ihrem Mann auf dem Sofa einer Frühstückssendung landete, präsentierte sie sich steif. Spannendes erfuhr man nicht: Er bringt den Müll raus, beide lieben das Wandern, sie sammelt Kochbücher.

    Als das Volk wegen Theresa May genervt aufstöhnte

    Einmal wurde sie gefragt, was denn das Ungezogenste gewesen sei, was sie jemals getan hätte. Sie sei als Jugendliche durch Weizenfelder gerannt, obwohl sich die Bauern darüber alles andere als erfreut gezeigt haben, antwortete May. Das Volk stöhnte merklich genervt auf.

    Einer ihrer letzten Auftritte als Parteichefin: Theresa May am Donnerstag bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des D-Day in Frankreich. Neben ihr ein Kriegsveteran.
    Einer ihrer letzten Auftritte als Parteichefin: Theresa May am Donnerstag bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des D-Day in Frankreich. Neben ihr ein Kriegsveteran. Foto: Leon Neal, afp

    Ihr größter Fehler war es, 2017 Neuwahlen auszurufen. Nach einem katastrophalen Wahlkampf verlor sie nicht nur die absolute Mehrheit, sondern auch ihre Autorität. May wurde eine Gefangene sowohl der erzkonservativen nordirischen Unionistenpartei DUP, die die Regierung fortan duldete, als auch der eigenen Hinterbänkler, die rebellierten und schimpften und putschten. Nicht allein der EU-Austritt war das Problem, sondern auch May persönlich, befand beispielsweise der einflussreiche konservative Kolumnist Matthew Parris. „Sie ist nicht normal, vielmehr außergewöhnlich“ – außergewöhnlich unkommunikativ und außergewöhnlich grob in der Art, wie sie Menschen ausblende, Ideen und Argumente, sagte er.

    Als vor Monaten bereits das ganze Land von der Premierministerin May in der Vergangenheitsform sprach, wollte sie diesen Umstand nicht akzeptieren. Bis zuletzt. Die Regierungschefin klammerte sich an ihr Amt wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz.

    Der EU-Austritt wurde beinahe zu einer Obsession. Doch das von ihr mit Brüssel ausgehandelte Abkommen scheiterte im Parlament. Einmal. Zweimal. Dreimal. Am Ende gab es keinen Ausweg aus der Sackgasse, in die sich die 62-Jährige zum großen Teil selbst manövriert hatte – wenn auch mit unfreundlicher Unterstützung ihrer Partei.

    Matthew Parris nannte May „den Todesstern der modernen britischen Politik“, eine Anlehnung an eine Raumstation aus den Star-Wars-Filmen, deren Feuerkraft ausreicht, einen ganzen Planeten zu vernichten. Tatsächlich liegt die völlig zerstrittene Partei der Tories in Trümmern – der Opposition der Labour-Partei geht es kaum besser. Die Fronten in der Bevölkerung sind so verhärtet wie nie. Nun wird jemand anderes sein Glück im unendlichen Brexit-Drama versuchen. Die Chancen, dass es ihr oder ihm ähnlich ergehen wird wie Theresa May, stehen ausgesprochen gut.

    Boris Johnson macht Ernst. Er hat die Haare gestutzt

    Ginge es allein nach dem Großteil der Mitglieder der konservativen Partei, würde Boris Johnson, seines Zeichens Polit-Clown und Brexit-Wortführer, schon sicher in die Downing Street ziehen. Die größte Hürde? Seine Abgeordnetenkollegen. Vermutlich auch die Statistik. Im vergangenen halben Jahrhundert setzte sich nur einmal der Anfangsfavorit durch. Doch Spaßvogel Johnson macht Ernst. Er hat abgenommen und die blonden Haare, die er sich sonst vor Auftritten stets frisch zerwühlte, sind zurechtgestutzt. Offenbar hört er auf den Rat seiner neuen Freundin, selbst Kampagnen-Profi, sich noch im Hintergrund zu halten. Bislang ist es auffallend ruhig um ihn.

    Bei den wenigen Auftritten präsentierte sich Johnson ungewohnt seriös. Der radikale Europa-Skeptiker, eine Marke auch im Ausland, will als jener Kandidat erscheinen, der die Partei wieder einen kann. Es handele sich bei Johnson um einen „Gewinner“, lobte gerade erst der Abgeordnete Damian Collins, früher Kritiker, jetzt Opportunist, der wie so viele Kollegen aus Karrieregründen nicht aufs falsche Pferd setzen will. Es könnte eine selbsterfüllende Prophezeiung werden.

    Ein konkreter Plan, wie es mit dem Brexit weitergehen soll, fehlt derweil allen Bewerbern. Willkommen zurück im Brexit-Fantasieland. Johnson hält sich bekanntermaßen nicht mit Details auf, auch die Realität blendet er gerne aus. Für ihn liegt die Lösung, will man seinen Kolumnen im Hausblatt The Telegraph glauben, im Vertrauen an die alte Pracht des Vereinigten Königreichs. Patriotismus als Wegweiser.

    Viele Freunde dürfte er sich im Parlament, wo bislang jeder Vorschlag durchgefallen ist, nicht machen. Auch nicht damit, dass seiner Ansicht nach das Königreich ohne Vereinbarung aus der EU austreten solle, wenn Brüssel keine besseren Bedingungen als jene im bisherigen Angebot offeriert. Auf jeden Fall will er am 31. Oktober, dem aktuellen Scheidungstermin, raus; alles andere wäre „Selbstmord“ für die konservative Partei, sagt er.

    Doch steuert der künftige Premier, ob Johnson oder ein anderer Hardliner, tatsächlich auf einen ungeordneten Brexit zu, würde mit Sicherheit das Unterhaus einschreiten, wo diese Option auf der langen Liste aller unbeliebten Optionen an Nummer eins steht. Es dürfte zu einem Misstrauensvotum kommen, gefolgt von einer Wahl. Und dann?

    Theresa May wird das ganze Spektakel aus ihrem Wohnort Sonning beobachten – jener anderen Welt, in der noch alles gut zu sein scheint. Sie dürfte darüber sehr erleichtert sein.

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