Und dann ist endlich 23 Uhr. Der Countdown, der auf die Backsteinfassade von Downing Street Nummer Zehn projiziert wird, endet – und springt auf null. Der Big Ben bongt, freilich vom Band, die echten Glocken bleiben wegen Reparaturarbeiten stumm. Nur wenige Meter entfernt auf dem Parliament Square jubeln tausende Menschen auf, schreien nicht nur ihre Freude über diesen historischen Moment heraus, sondern auch den Frust, der sich angesichts der politischen Dramen über Jahre angestaut zu haben scheint. Sie schwenken Union Jacks und strecken die Fäuste in den Nachthimmel. Brexit, endlich.
1317 Tage sind seit dem Referendum vergangen. In der Nacht zum Samstag hat das Vereinigte Königreich 47 Jahre nach dem Beitritt schließlich die Europäische Union verlassen. Es ist der Moment der Sieger und den wollen die Brexit-Fans mit der großen Abschiedsparty vor dem Westminster-Palast feiern. „Wir sind raus“, die Buchstaben erscheinen auf der riesigen Leinwand, als es soweit ist, die Versammelten singen die Nationalhymne „God save the Queen“. Und eilen dann wie nach dem Abpfiff eines Fußballspiels flugs nach Hause. War was?
Boris Johnson will sich als großen Versöhner geben
Bereits am frühen Abend kamen die Hartgesottenen trotz des Nieselregens, patriotisch beflaggt, behütet und bemalt, einige trugen Anzüge bedruckt mit hunderten Mini-Union Jacks. Es wurde viel Bier getrunken, manche würden es nicht einmal bis zum Brexit durchhalten. Einige Ministeriumsgebäude waren in blau-rot-weiße Farben getaucht, die Lichtshow war das Geschenk der Regierung an das europaskeptische Volk. Eine Stunde vor der offiziellen Scheidung wandte sich Premierminister Boris Johnson mit einer aufgezeichneten Ansprache an die Nation. Der Brexit sei für das Königreich „kein Ende, sondern ein Anfang“.
Der Konservative will dieser Tage den großen Versöhner geben, nachdem er jahrelang vor allem als Chef-Spalter der Nation agierte. Die Pro-EUler blieben am Brexit-Abend ohnehin vornehmlich zuhause. Manche stellten aus Trauer eine Kerze in ihr Fenster. Vor dem Rathaus in London lud Bürgermeister Sadiq Khan Bewohner aus anderen EU-Mitgliedstaaten ein und betonte, die britische Metropole sei „eine wahrlich globale, europäische Stadt“. Seine Botschaft an die mehr als eine Million in London lebenden EU-Bürger: „London ist offen und jeder ist willkommen.“ Die Message erschien als Teil einer Kampagne in U-Bahn-Stationen und in Museen, auf Bannern und an Kirchenwänden.
Der Labour-Politiker Khan versuchte als lautstarker Brexit-Gegner jahrelang, ein zweites Referendum durchzusetzen. „Ich bin überzeugt, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte standen, und deshalb wird das Resultat des Referendums für mich immer schwer zu verdauen sein.“ Es herrschten in dieser Nacht gemischte Gefühle auf der Insel. Wehmut und Tränen im Lager der Pro-EUler, das an diesem Abend ganz leise wurde. Jubel und Triumph überwiegten dagegen auf der anderen Seite.
Marilyn Daley: "Jetzt endlich wird Demokratie respektiert"
„Wir sind einfach nur glücklich“, sagt Marilyn Daley. Die 67-Jährige vom östlichen Rande Londons pilgerte in den vergangenen Jahren drei bis vier Mal pro Woche vor den Westminster-Palast, um am Ort der politischen Entscheidungsschlachten die Abgeordneten daran zu erinnern, wofür die Menschen am 23. Juni 2016 votierten. „Wir haben dreieinhalb Jahre gewartet, jetzt endlich wird Demokratie respektiert.“ Sie freue sich darauf, die Unabhängigkeit, die Souveränität und ja, auch die Fischereigewässer zurückzubekommen.
Ihre Mitstreiter nicken eifrig. „Wir wollen stolz auf unser Land sein“, bestätigt Freundin Sharon Burnes, die aus der Hauptstadt-nahen Grafschaft Essex anreiste. Aber, so werden sie nicht müde zu betonen, sie „hassen lediglich die EU, nicht Europa“. Die Senioren kennen sich alle vom Protest. Jetzt feiern die Aktivisten den krönenden Abschluss ihres Kampfes gegen die EU, stehen auf dem Platz, der eingerahmt ist von Statuen von Winston Churchill, Mahatma Gandhi und Nelson Mandela. Immer wieder stimmen die Menschen patriotische Lieder wie „Rule Britannia“ und „Land of Hope and Glory“ an – der Soundtrack zum Brexit. Es ist an diesem Abend ein bisschen Party, ein bisschen Karneval, Touristen und Schaulustige kommen genauso wie Erz-Brexiteers und viele junge Männer, vor allem aus der Kategorie Gröler.
Später soll Nigel Farage die Menge einheizen, der ehemalige Chef der Anti-EU-Partei Ukip und Gründer der Brexit Party. Er sagt Dinge wie: „Der Krieg ist vorbei, wir haben gewonnen.“ Oder: „Das ist der großartigste Moment in der modernen Geschichte dieser großartigen Nation.“ Die Sätze kommen an. Zur Befriedung der aufgeheizten Stimmung im Land tragen sie nicht bei. Auch an jenem Abend herrscht viel Wut und Ärger.
„Verräter“, schreit ein Mann in Richtung Leinwand, als Ex-Premier Tony Blair in einem kleinen Filmchen eingespielt wird. Es ist noch der netteste Ausdruck aus dem Mund des Brexit-Fans. Auf Plakaten fordern manche, „die Betrüger einzusperren“. Sie meinen jene Pro-Europäer, die für ein zweites Referendum oder gar den Verbleib in der EU kämpften. Die Schreihälse auf dem Parliament Square mögen zwar keineswegs die Mehrheit der Europaskeptiker repräsentieren, es sind vielmehr diejenigen, die sich vor allem am englischen Nationalismus ereifern. Trotzdem stoßen einige Szenen vom Freitagabend vor der Mutter aller Parlamente auf. Ob sie auch einen Vorgeschmack auf Brexit-Britannien geben, werden die nächsten Wochen, Monate und Jahre zeigen.
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