Die Furcht vor den Schatten von einst war nie wirklich weg in Nordirland. In diesem Landesteil des Königreichs, wo man seit 1998 dachte, es könnte nur besser werden nach all den Bomben, den unzähligen Toten, dem Leid während des jahrzehntelangen Bürgerkriegs. Und tatsächlich wurde mit dem Karfreitagsabkommen, das den Weg zu einem offiziellen Frieden ebnete, zunächst vieles gut. Versöhnung. Investitionen. Perspektiven. Doch dann kam der Brexit – und seitdem sprechen die Menschen wieder oft von ihrer Angst und alten Wunden, die aufreißen könnten. Das war nicht unbegründet, wie die letzten Tage gezeigt haben.
Zwischen Protestanten und Katholiken fliegen Molotowcocktails
Hunderte Randalierer, darunter viele Jugendliche, warfen Ziegelsteine auf Polizisten sowie Brandbomben und Feuerwerkskörper in Busse und auf Einsatzfahrzeuge. Die Gewalt eskalierte, Nordirland befindet sich im Ausnahmezustand. Insbesondere in Belfast an den sogenannten Friedensmauern, die das protestantisch-unionistische Wohnviertel und die katholisch-republikanische Gegend trennen, flogen Molotowcocktails. Es sind verstörende Szenen, die an die blutige Vergangenheit erinnern.
Der Grund für die Ausschreitungen ist keineswegs nur der Brexit. Aber er spielt eine große Rolle. Mit dem EU-Austritt, der die Gesellschaft tief gespalten hat, wurde Nordirland zum Zankapfel der Politik auf Kosten der Menschen in dem Landesteil.
Ausgerechnet die Pro-Briten fühlen sich als Brexit-Verlierer
Vor allem heizt er die alten Spannungen zwischen pro-irischen Republikanern und pro-britischen „Unionisten“ an. Ausgerechnet die Pro-Briten betrachten sich als die Verlierer der Brexit-Saga und sehen das feindliche Lager der Republikaner als Sieger. Die derzeitigen Krawalle sind für sie eine Rebellion gegen die Grenze in der Irischen See, die de facto Nordirland vom britischen Mutterland trennt.
Dabei war das Problem seit der Entscheidung der britischen Regierung, einen harten Brexit anzustreben und damit Zollunion sowie den gemeinsamen Binnenmarkt zu verlassen, offensichtlich. Sie machte eine Grenze unvermeidlich. Die Frage war nur, wo sie entlanglaufen würde.
Die neue Grenze schürt Sehnsüchte nach Wiedervereinigung
Doch wurde dieser Umstand von der britischen Regierung meist ignoriert oder verharmlost. Vor dem Brexit konnten sich die Unionisten als integrierter Teil des Königreichs fühlen, ohne Grenze zu Großbritannien. Und die Republikaner durften sich als integrierter Part Irlands betrachten, ohne Grenze zur Republik. Doch seit London und Brüssel sich auf das Nordirlandprotokoll des Austrittsabkommens geeinigt haben, gibt es die Grenze zwischen Großbritannien und der Provinz im Norden tatsächlich.
Die Grenze nährt nun Sehnsüchte der Republikaner auf eine Wiedervereinigung mit Irland. Die Unionisten dagegen fühlen sich von der britischen Regierung verraten.
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