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Brexit: Mangelwirtschaft, Panikkäufe, Wut: Großbritannien steht still

Brexit

Mangelwirtschaft, Panikkäufe, Wut: Großbritannien steht still

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    Lastwagenfahrer Tom Reddy: Er kann in diesen Tagen über zu wenig Arbeit gewiss nicht klagen.
    Lastwagenfahrer Tom Reddy: Er kann in diesen Tagen über zu wenig Arbeit gewiss nicht klagen. Foto: T. Reddy

    Es ist kurz vor Mitternacht, als sich Tom Reddy auf den Weg zur Arbeit macht. 45 Minuten muss der Lastwagenfahrer mit seinem Auto von seinem Heimatort Stratfort-Upon-Avon nahe Birmingham bis zur Molkerei in Aylesbury zurücklegen. Dort steht er, sein Lastwagen. Ein weißer 44-Tonner, beladen mit 8500 Flaschen Frischmilch. Gegen 4.20 Uhr erreicht Reddy in dieser Nacht den ersten Supermarkt. Sein Arbeitstag wird erst zwölf Stunden später enden, gegen 16 Uhr. Zurzeit gehört der 36-Jährige zu den gefragtesten Arbeitern im Vereinigten Königreich. Denn auf der Insel herrscht ein massiver Mangel an Lastwagenfahrern.

    „Der Job ist sehr anstrengend“, erzählt Tom Reddy, vor allem wegen der langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten. Deren Folge: Schon seit Jahren wollen immer weniger Briten als Lkw-Fahrer Waren durchs Land transportieren. Aktuell fehlen, den Angaben der britischen Road Haulage Association zufolge, insgesamt rund 100.000 von ihnen. Dieser Mangel, auch an Tanklastwagenfahrern, hat inzwischen zu einer veritablen Krise auf der Insel geführt. Und zu reichlich schlechter Stimmung.

    In allen Ecken von Großbritannien bricht vor den Tankstellen Chaos aus

    Denn die Fahrer werden nicht nur benötigt, um Lebensmittel und Waren zu transportieren, sondern eben auch, um Benzin zu den Tankstellen zu bringen. In einem Bericht des britischen Öl- und Gaskonzerns BP war vergangene Woche zum ersten Mal von drohenden Kraftstoff-Engpässen die Rede. Die Menschen bekamen Panik. In allen Ecken des Landes brach Chaos aus vor den Tankstellen. Warteschlangen. Wut. Zu Beginn dieser Woche hatten dann laut Schätzungen bis zu 90 Prozent der Tankstellen zu wenig oder gar kein Benzin mehr. Panikkäufe und Mangelwirtschaft – es sind solche Nachrichten, solche Bilder, die um die Welt gehen. Und mit ihnen, wieder einmal, das Wort „Brexit“.

    Überall auf der Insel bilden sich vor Tankstellen lange Schlangen. Die Wut der Wartenden ist groß.
    Überall auf der Insel bilden sich vor Tankstellen lange Schlangen. Die Wut der Wartenden ist groß. Foto: Frank Augstein, dpa

    An all dem wird sich auch in den kommenden Tagen wenig ändern, das sagen sogar Minister. Und so wird sich der Verkehr wieder stauen in vielen Straßen Londons, wie am Freitag. Die Autos stehen dann oft mehrere hundert Meter in beide Richtungen, Stoßstange an Stoßstange. Vor den Tankstellen wird gehupt und gedrängelt.

    In Facebook-Gruppen tauschen sich die Menschen bereits aus, bitten um Rat. „Wo kann ich noch Benzin finden?“, heißt es. Die Antworten von Nutzerinnen und Nutzern, die sie erhalten, machen wenig Mut. Manche berichten, sie hätten eine Stunde warten müssen. Andere schreiben, dass sie ganz leer ausgegangen seien. Immer wieder kommt es vor Ort auch zu Streitereien, vereinzelt sogar zu Schlägereien. Nach den Gründen für die Misere gefragt, sagt eine 32-jährige Kellnerin vor einer Esso-Tankstelle im Londoner Norden: „Der Brexit ist schuld. Seitdem hat sich alles geändert.“

    Ist es tatsächlich der Brexit, der für die Krise verantwortlich ist?

    Doch ist es tatsächlich der Brexit, der für die Krise verantwortlich ist? Ist sie gar die Strafe dafür, dass die Briten „Goodbye“ zur EU sagten und ihr den Rücken kehrten? Auch in den britischen Medien wird über diese Frage kontrovers diskutiert. „Der Brexit ist Teil des Problems. Doch es gibt auch Gründe, die nichts damit zu tun haben“, sagt die Politikwissenschaftlerin Sarah Hall vom britischen Think Tank „UK in a changing Europe“. Der Londoner Anwalt Christopher Desira, Experte für Migrationsrecht, sieht es genauso: „Lastwagenfahrer werden seit Jahrzehnten zu schlecht bezahlt“, betont er. Und: „Der Beruf ist nicht besonders angesehen, im Unterschied zu Jobs im Servicebereich zum Beispiel.“ Darüber hinaus seien viele Lkw-Fahrer in Rente gegangen und viele EU-Bürger wegen der Pandemie in ihre Heimatländer zurückgekehrt.

    Anwalt Christopher Desira.
    Anwalt Christopher Desira. Foto: Ebner/privat

    Ein Bündel an Gründen und Problemen also, zu dem erschwerend hinzukomme, dass es Fahrern im Königreich seit März dieses Jahres nicht mehr erlaubt ist, selbstständig zu arbeiten, erklärt Tom Reddy. Dies habe zu höheren Steuerabgaben geführt und noch mehr Menschen aus diesem Job gedrängt. Und, fügt der 36-Jährige hinzu: „Bedingt durch die Pandemie haben wir alle zwei Jahre unseres Lebens verloren. Da fragt man sich schon, was wirklich wichtig ist.“

    Der Brexit jedenfalls, daran gibt es keinen Zweifel, verschlimmert die Lage. Weil es für dringend benötigte Fahrer aus der EU durch neue Visa-Bestimmungen sehr schwierig ist, auf die Insel zu kommen. Neben dem anfallenden Papierkram ist die Beantragung eines Visums teuer. Und man muss auch noch einen Sprachtest bestehen. „Das ist für viele eine große Hürde“, erklärt Anwalt Desira. Deshalb kämen kaum mehr Arbeiter vom Kontinent auf die Insel.

    Die Unternehmen in Großbritannien sind gezwungen, umzudenken

    Es waren vor allem Fahrer aus osteuropäischen Ländern wie Rumänien, die seit Jahrzehnten die existierenden schlechten Arbeitsbedingungen in der Branche verschleierten. „Sie machten Jobs, die die Briten nicht mehr machen wollten“, sagt Lkw-Fahrer Reddy. Nun tritt alles zutage – und die Unternehmen in Großbritannien sind gezwungen, umzudenken. Sie müssen den Beruf auch für Einheimische langfristig attraktiver machen.

    An den akuten Problemen löst diese Erkenntnis jedoch erst einmal nichts. Notwendige Maßnahmen brauchen Zeit – und viele Menschen brauchen Benzin. Jetzt. Medizinische Dienste zum Beispiel sind darauf angewiesen und geraten in Bedrängnis. Elli, Angestellte einer Apotheke im Londoner Norden, die ihren Nachnamen für sich behalten möchte, berichtet: „Wir können seit einer Woche keine Medikamente mehr an die Patienten liefern.“ Zwischen Regalen stehend blickt sie sorgenvoll zum Telefon hinter dem Verkaufstresen. „Ich verbringe deshalb jeden Tag mindestens eine Dreiviertelstunde mit Kunden-Gesprächen“, sagt sie. Bislang seien die Medikamente immer angekommen, vor allem weil Angehörige und Freunde sich bereit erklärt hätten, sie abzuholen. Sie mache sich aber große Sorgen darüber, wie es weitergehen soll.

    Auch der 23-jährige Londoner Pini Brown macht sich so seine Gedanken. Er betreut pro Woche im Schnitt 25 pflegebedürftige Menschen. Er besucht sie in ihrem Zuhause, um für sie zu erledigen, was gerade anfalle, wie er sagt. Seiner Aufgabe verlässlich nachzugehen, sei in den vergangenen Tagen jedoch schwieriger gewesen. „Ich kam häufiger zu spät, da der öffentliche Nahverkehr durch die Staus vor den Tankstellen immer wieder ins Stocken geriet“, erzählt er. Noch hat er seinen Optimismus nicht verloren, dass die britische Regierung das Problem bald in den Griff bekommt.

    Pfleger Pini Brown.
    Pfleger Pini Brown. Foto: Ebner/privat

    In der Tat hat die Regierung Vorschläge unterbreitet, wie sie die Situation lösen will. Sie zieht in Erwägung, ausländischen Lastwagenfahrern ein vorübergehendes Visum auszustellen. Es soll für drei Monate gelten und pünktlich am Abend des ersten Weihnachtsfeiertags auslaufen. Ob das Fahrer vom Kontinent anzieht? Anwalt Christopher Desira, der sich mit Migrationsrecht auskennt, hält von dem Vorschlag wenig. „Die Zeiten, in denen die Menschen aus der EU unbedingt nach Großbritannien und London kommen wollten, sind vorbei“, meint er – erst recht für so einen kurzen Zeitraum. Aus seiner Sicht kann die Regierung unter Premierminister Boris Johnson aber auch kein großzügigeres Angebot an EU-Bürger machen. Sonst werde ihr vorgeworfen, dass der Brexit entweder ein Fehler gewesen sei. Oder, dass sie ihn nicht konsequent durchführe.

    Die britische Regierung erwägt bereits den Einsatz von Soldaten - zur Kraftstoffverteilung

    Ein anderes Szenario der Regierung sieht vor, hunderte britische Soldaten damit zu betrauen, Kraftstoff zu verteilen. Damit greift Johnson auf einen Plan zurück, den diese für den Fall eines „No-Deal-Brexit“ erarbeitet hatte. Der Name: „Operation Escalin“. Ein Problem daran: „Man kann nicht auf der einen Seite sagen, dass die Menschen im Land keine Panik bekommen sollen und dann ankündigen, dass die Armee eingesetzt werden muss, um die Situation zu lösen“, erklärt Sarah Hall von der Denkfabrik „UK in a changing Europe“.

    Wo Mangel herrscht, herrscht allerdings auch Erfindungsreichtum. Ein Café im Zentrum Londons hat vor seinem Eingang ein Schild aufgestellt, darauf steht: „Der Kaffee geht aus! Panikkäufe hier!“ Doch gleich, ob ernst gemeint oder britischer Humor – die Aussichten bleiben trübe.

    „Kaffee-Knappheit!“ steht auf diesem Schild, das zum „Panikkauf“ einlädt.
    „Kaffee-Knappheit!“ steht auf diesem Schild, das zum „Panikkauf“ einlädt. Foto: Susanne Ebner

    In Medien heißt es schon, das Weihnachtsfest könnte nicht so verlaufen wie erhofft. David Lindars, Leiter der British Meat Processors Association, die die fleischverarbeitende Industrie vertritt, sagt am Freitag: Produkte, für deren Herstellung man viele Arbeiter benötige – „Schwein im Speckmantel“ oder „dekorierter geräucherter Schinken“ – würden im Dezember wegen der höheren Nachfrage möglicherweise knapp. Lösungsvorschlag der Regierung: Wie bei den Lastwagenfahrern sollen auch Schlachter einfacher ins Land gelangen. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie die Stimmung an Weihnachten sein könnte.

    Fällt sogar Weihnachten der Krise zum Opfer?

    Ein Verkäufer einer Bio-Supermarkt-Kette im Londoner Norden versteht die ganze Aufregung nicht. Während er in seiner dunklen Schürze an der Kasse steht, streift sein Blick über das prall gefüllte Gemüse-Kühlregal. „Manchmal werden ein paar Waren weniger geliefert. Das stimmt schon. Aber insgesamt ist das Angebot gut“, sagt er. „Wenn es keinen Brokkoli gibt, kann man ja auch Blumenkohl essen“, meint er.

    Eine pragmatische Sicht auf die Lage der Nation, aber keine Lösung. Schließlich müssen auch Supermärkte immer kreativer werden, um die Lieferschwierigkeiten auszugleichen. Die britische Kette Tesco plant bereits, Waren und Lebensmittel häufiger mit dem Zug aus Spanien nach Großbritannien transportieren zu lassen.

    Vielleicht sollte sie zuvor einmal mit Lastwagenfahrer Tom Reddy darüber sprechen. Der weist darauf hin: „Das Schienennetz wurde in Großbritannien immer mehr zurückgebaut.“ Die Folge: Wer Waren transportieren wolle, sei auf die Straße und damit auf Lastwagenfahrer wie ihn angewiesen.

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