Emmanuel Macron gibt sich als Hardliner. Als der EU-Sondergipfel zum Brexit am Mittwochabend gegen 23 Uhr fast schon am Ende ist, widerspricht der französische Staatspräsident dem Großteil seiner Amtskollegen sowie der deutschen Kanzlerin: Eine Verschiebung bis zum 30. Juni müsse reichen. Schließlich müsse die Arbeit der Europäischen Union weitergehen – und zwar ohne britische Bremsversuche. Dass sich die 27 Staats- und Regierungschefs am frühen Donnerstagmorgen trotzdem auf den 31. Oktober als spätesten Austrittstermin einigen, ist ein Kompromiss – die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wirklich zufrieden ist niemand.
Es ist vor allem auch ein Kompromiss zwischen zwei Protagonisten, die schon beim letzten Brexit-Sondergipfel die Extrempositionen vertreten hatten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte sich auf die Fahne geschrieben, dem Ziel eines geordneten Brexits alles unterzuordnen. Macron ließ die Option des Chaos-Brexits ohne Rücksicht auf Verluste bis zuletzt auf dem Tisch – und verärgerte damit die Runde. „Frankreich hat sich heute Abend keine neuen Freunde gemacht“, hieß es. Doch wie geht es nun überhaupt weiter?
Brexit: May will die Briten auf eine Europawahl vorbereiten
Die britische Premierministerin Theresa May hat zugesagt, dass Großbritannien die Europawahlen vorbereitet. Allerdings will sie einen Versuch wagen, den bereits ausgehandelten Deal mit der EU noch vor dem 22. Mai durch das Unterhaus zu bringen. Sollte dies gelingen, kann das Land die EU verlassen, noch bevor der Startschuss für die Wahlen in dann nur noch 27 Ländern gefallen ist.
Scheitert May allerdings zum vierten Mal, findet der Urnengang auch in Großbritannien statt. 73 Mandate sind zu vergeben, die eigentlich geplante Verkleinerung des Europäischen Parlamentes auf 705 Abgeordnete (derzeit 751) wird gestrichen. Sollte das Vereinigte Königreich allerdings ohne angenommenen Austrittsvertrag die Europawahlen auslassen, fliegt das Land sozusagen automatisch am 1. Juni aus der Gemeinschaft. Die Staats- und Regierungschefs haben vereinbart, auf ihrem regulären Gipfeltreffen im Juni eine Bilanz zu ziehen.
Läuft alles wie vereinbart, tritt das neu gewählte Europäische Parlament am 2. Juli in Straßburg zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen – ohne Brexit mit den frisch gewählten britischen Parlamentariern. Die wären dann übrigens zu einer „loyalen Zusammenarbeit verpflichtet“ und müssten „konstruktiv und verantwortungsvoll“ mit der EU kooperieren, wie es in der Schlusserklärung heißt. Schließlich wollten die Staats- und Regierungschefs verhindern, dass europakritische oder EU-müde Briten die Gemeinschaft fortan blockieren oder ausbremsen. Unabhängig davon hätte London weiter Zeit, den Brexit bis zum 31. Oktober zu vollziehen.
Das Datum ist keineswegs willkürlich gewählt. Denn laut europäischem Fahrplan endet die Amtszeit der Juncker-Kommission genau an diesem Tag. Die neue europäische „Regierung“ übernimmt am 1. November – allerdings wird die Runde dann auf jeden Fall nur 26 Kommissare plus Präsidenten umfassen. Denn die Briten sind bis dahin draußen und müssen keinen Kommissar mehr entsenden.
Das nach heftigen Diskussionen erstellte Schlussdokument des EU-Gipfels von Mittwochnacht erinnert – durchaus vielsagend – daran, dass der britischen Premierministerin Theresa May noch eine letzte Möglichkeit bliebe, auf die der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hingewiesen hat: Mit einer kurzen Mitteilung könnte May auch bis zum 30. Oktober ohne Rücksprache mit der EU das Austrittsverfahren nach Artikel 50 stoppen.
Merkel ist zufrieden mit dem Brexit-Aufschub
Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich am frühen Donnerstagmorgen jedenfalls zufrieden mit dem Ergebnis. „Für mich war klar: Wir kämpfen und setzen uns ein für einen geordneten Austritt, nicht wegen britischer Forderungen, sondern wegen des eigenen Interesses.“ EU-Ratspräsident Tusk hatte – es war inzwischen halb drei am Donnerstag – nur noch eine müde Bitte an das Vereinigte Königreich: „Ich bitte Sie wirklich, keine Zeit zu verschwenden und zu einer guten Entscheidung zu kommen.“
Dass das Datum ausgerechnet auf den 31. Oktober fällt, empfanden derweil viele Beobachter in Großbritannien als passendes Bild. „Mays Halloween-Horror“, titelte etwa die Boulevardzeitung Daily Mail und verwies wie beinahe alle Medien auf den Volksbrauch am Abend des 31. Oktober. Wieder einmal stand May im Fokus der Entrüstung. Von allen Seiten hagelte es Kritik auf die Regierungschefin für ihre Entscheidung, den Brexit hinauszuzögern. Sie sei sich wohl bewusst, dass das ganze Land von der Verzögerung „frustriert“ sei und dass die Abgeordneten dadurch unter „immensen Druck“ gesetzt würden, verteidigte sich May.
Forderungen nach einem erneuten Referendum erteilte sie jedoch abermals eine Absage. „Ich glaube daran, dass wir die Europäische Union sobald wie möglich mit einem Deal verlassen.“ Doch wie sie das Königreich aus der Sackgasse manövrieren will, bleibt weiter unklar.
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