"Unterschrieben und besiegelt" – mit diesen Worten präsentierte Premierminister Boris Johnson dem britischen Volk im Januar das Austrittsabkommen mit der EU, auf das sich beide Seiten im Herbst 2019 nach zähen Verhandlungen geeinigt hatten. Das Königreich schied aus der EU-Staatengemeinschaft aus, seitdem laufen die Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen. Jetzt, knapp vier Monate vor Ende der Übergangsphase, soll alles anders sein? Johnson plant, das Austrittsabkommen durch nationale Gesetze zu unterlaufen. Der von ihm als "großartig" gepriesene Deal habe nie Sinn ergeben, heißt es nun aus der Downing Street. Während die Gespräche über die Handelsbeziehungen in der britischen Hauptstadt laufen, eskaliert der Streit zwischen London und Brüssel. Der Schritt Johnsons, Teile des ratifizierten Vertrags infrage zu stellen, werde bei der EU als pure Provokation verstanden und nachhaltigen Schaden anrichten, wie Diplomaten in Brüssel betonen. Auf dem Kontinent blickt man "besorgt und alarmiert" auf die Entwicklung auf der Insel. Die Drohung, einen internationalen Vertrag zu brechen, gilt trotz Johnsons Zocker-Mentalität als außergewöhnlich. Nordirland-Minister Brandon Lewis bestätigte im Unterhaus die Absicht der Regierung. "Ja, das Gesetz bricht internationales Recht auf eine sehr spezifische und eingeschränkte Weise."
Johnson folgt den Forderungen der Brexit-Hardliner
Etliche Tory-Abgeordnete legten ihre Bedenken dar. "Wie kann die Regierung künftigen internationalen Partnern versichern, dass sie dem Königreich vertrauen können, rechtliche Verpflichtungen von Abkommen einzuhalten, die es unterschreibt?", kritisierte Ex-Premierministerin Theresa May. Der Konservative Sir Bob Neill befand es als "inakzeptabel", sich nicht an geltendes Recht zu halten, während ein europaskeptischer Kommentator auf Twitter schimpfte, der Schritt sei "alles andere als britisch". Johnson folgt den Forderungen der Brexit-Hardliner in den eigenen Reihen, die gegen die im Ausstiegsabkommen getroffenen Einschränkungen für Nordirland rebellieren.
Johnson selbst hatte den Deal im Herbst 2019 ausgehandelt
Angeheizt wurde die Diskussion, nachdem sogar der Chefjurist der Regierung, Jonathan Jones, am Dienstag seinen Posten aufgab. Laut Medienberichten sei Jones "sehr unglücklich" über die Entscheidung, Teile des Deals zu ändern. Irlands Premier Micheál Martin warnte die Regierung in London, ein Bruch würde dazu führen, dass alle Verhandlungen "null und nichtig" seien. Auf der Insel sorgten die Nachrichten für Ärger und Unverständnis. Johnson selbst war es, der den Deal im Herbst 2019 aushandelte; der dann die Kampagne vor der Parlamentswahl im Dezember auf just dieses Abkommen zuschnitt und absolute Mehrheit einfuhr. Das Unterhaus votierte im Anschluss für den Vertrag, Kritiker wurden abgekanzelt. Und nun? Konkret geht es um das Nordirland-Protokoll und damit um die Abmachung, dass Großbritannien sich zu einem fairen Wettbewerb bereit erklärt und Unternehmen in Nordirland nur nach Absprache mit Brüssel Staatsbeihilfen gewähren kann. Man wollte garantieren, dass die politisch hochsensible Grenze zwischen der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland und der Republik Irland ohne sichtbare Kontrollposten bleibt.
Die entscheidende Frage: Blufft der Premier im Brexit-Streit?
London kritisiert, dass die Region vom restlichen Königreich isoliert werden könnte, was angeblich bei der Vereinbarung des Vertrags nicht absehbar gewesen sei. Unklar ist, wie es nun weitergeht. Sollten die Verhandlungen über ein Handelsabkommen scheitern, würden die Beziehungen ab Januar nach den Standards der Welthandelsorganisation geregelt werden. Johnson zufolge wäre auch das ein "gutes Ergebnis". Es bleibt die Frage, ob der Premier nur blufft, um die EU zu Kompromissen zu zwingen? Oder ob er endgültig den No-Deal-Brexit verfolgt.
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