Müssen bald alle Kinder in Deutschland in den Kindergarten? Oder speziell diejenigen, die in ihren Familien kein Deutsch lernen? Seit der französische Präsident Emmanuel Macron verkündet hat, dass in Frankreich die Schulpflicht künftig bereits für Kinder ab drei Jahren gilt, werden diese Fragen kontrovers diskutiert.
In Deutschland gibt es keine allgemeine Kindergartenpflicht
Der Bildungsforscher Dieter Lenzen, Rektor der Universität Hamburg, lobt die Ausweitung der Schulpflicht in Frankreich als "beispielhaft". Mittelfristig solle dies "auch ein Ziel in Deutschland sein", sagt der Vorsitzende des "Aktionsrats Bildung" unserer Redaktion. Lenzen ergänzt: "Dieses gilt auch und besonders im Hinblick auf die sehr großen Zahlen von Migrantenkindern aus bildungsfernen Schichten, deren Integration ohne solche Maßnahmen außerordentlich schwierig ist." Es gebe "sowohl beschäftigungspolitische Gründe als auch solche der Gleichstellung von Frauen und Männern und insbesondere Gründe der Herstellung von Chancengerechtigkeit für die Kinder, eine Bildungseinrichtung durchzusetzen, die früher wirksam wird als die jetzige Grundschule."
Eine allgemeine Kindergartenpflicht gibt es in Deutschland nicht, die Früherziehung ist Sache der Länder und Kommunen. In Berlin müssen Kinder mit Sprachproblemen bereits seit einigen Jahren verpflichtend für mindestens 18 Monate in die Kita. Zumindest in der Theorie. Doch wie örtliche Medien berichten, wird die "Kitapflicht" von den meisten der betroffenen Familien schlichtweg ignoriert.
Familienministerin Giffey scheut den Vergleich mit Frankreich
Rund 90 Prozent der fraglichen Kinder bleiben bis zur Einschulung zu Hause. Der Senat hatte 2000 Familien angeschrieben, weil ihre Kinder keine Kita besuchen, und zu einem verpflichtenden Sprachtest gebeten. Zu diesem erschienen nur 650 Kinder, 470 von ihnen fielen durch. Von denen wiederum haben nur 50 anschließend die Kita besucht. Die meisten der Familien, die gegen die Kitapflicht für ihre Kinder verstoßen, leben im Problembezirk Neukölln.
Die neue Bundesfamilienministerin Franziska Giffey war dort bis vor kurzem Bürgermeisterin. Sie fordert eine neue Debatte um die frühkindliche Bildung in Deutschland. "Es kann nicht sein, dass Eltern überlegen, kann ich es mir überhaupt leisten, mein Kind in die Kita zu geben", sagt die SPD-Politikerin unserer Redaktion. Von einer Ausgangslage wie in Frankreich sei Deutschland jedoch noch weit entfernt: "Wir müssen erst mal dahin kommen, dass wir für alle ein Angebot machen können", sagt Giffey.
In Deutschland fehlen Erzieher
"Wenn man sich die Situation deutschlandweit anschaut und den Realitäten ins Auge blickt, dann sehen wir: Wir haben nicht genügend Kitaplätze, nicht mal annähernd", räumt die Familienministerin ein. "Erst mal muss es darum gehen, dass ein Kita-Angebot geschaffen wird, dass der Bedarf gedeckt wird", betont sie. "Uns fehlen die Erzieherinnen und Erzieher. Da müssen wir ansetzen und das ändern." Zugleich betont Giffey die Wichtigkeit des Themas: "Ich bin eine Verfechterin von guter frühkindlicher Bildung", sagt sie. "Wir müssen früh anfangen, damit jedes Kind es packt", fügt sie hinzu. "Ein Fünfjähriger, der sich nicht alleine anziehen kann, nicht rückwärts laufen, nicht den Stift halten kann und Probleme beim Sprechen hat, hat keine guten Startbedingungen", erklärt Giffey. "Wenn sich das fortsetzt, wird das kein guter Schulabschluss." Andere Kinder fühlten sich abgehängt oder gingen gar nicht mehr in die Schule. "Das heißt: keine Ausbildung, keine Arbeit, Sozialleistungsbezug. Das darf nicht passieren."
Marcus Weinberg (CDU), familienpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, könnte sich "durchaus vorstellen, dass Kindern, bei denen im Kindergarten- oder Vorschulalter Sprachdefizite oder Integrationsdefizite festgestellt werden, bereits vor dem Schulbeginn zusätzliche und verpflichtende Angebote und spezielle Vorschulmaßnahmen unterbreitet werden." Von einem Kitazwang für alle Kinder halte er aber nichts.