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Brand in London: "Goodbye, ich werde es nicht schaffen"

Brand in London

"Goodbye, ich werde es nicht schaffen"

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    Der Grenfell Tower: Ein ausgebranntes Grab für viele Menschen.
    Der Grenfell Tower: Ein ausgebranntes Grab für viele Menschen. Foto: Tolga Akmen, afp

    In all den Trümmern, der Asche und Verzweiflung wirkt das weiße Blatt Papier wie ein Hoffnungsschimmer. Die Ecken sind zwar angekokelt, aber sonst ist es fast unversehrt. Darauf steht: "Ich kann mein Gefühl nicht beschreiben. Ich bin sehr, sehr glücklich. Ich habe viele Ideen und Pläne. Ich habe viele Träume, die ich verwirklichen will." Es ist der handschriftliche, herzzerreißende Brief eines Kindes, das im Grenfell Tower lebte – in jenem 24-stöckigen Wohnhaus in West-London, das nun dasteht wie ein Mahnmal des Schreckens. Anderthalb Tage lang hat der Klotz wie eine riesige brennende Fackel in den Nachthimmel geragt, selbst am Donnerstag schlagen noch Flammen aus einigen Fenstern. Nun sieht das Gebäude im Stadtteil Kensington aus wie ein heruntergebranntes Streichholz. Ob das Kind mit seinen Plänen und Träumen überlebt hat oder zu den mindestens 30 Todesopfern gehört?

    Noch ist das unklar, wie so vieles. Die Behörden gehen von weitaus mehr Toten aus, da sich bis zu 600 Menschen in dem Gebäude aufgehalten haben sollen; die genaue Zahl weiß niemand. Die Suche nach Vermissten in den oberen Stockwerken ist aus Sicherheitsgründen erst mal unterbrochen worden. Die Ränder des Turms sind instabil. Die Fassade kann jederzeit bröckeln. "Ich schicke da gerade keine Leute rein", sagt Feuerwehrchefin Dany Cotton sichtlich gezeichnet. Ein solches Feuer, räumt sie ein, habe sie in ihrer ganzen Karriere noch nicht gesehen. Die Arbeit werde noch Wochen dauern. Die Einsatzkräfte wollen dann Fingerabdrücke nehmen und Hunde in das Gebäude schicken. Hat Cotton Hoffnung, noch jemanden lebend zu finden? "Es wäre ein Wunder."

    Jessica, 20. Stock. Gloria und Marco, 23. Stock.

    Völlig erschöpfte Rettungskräfte sitzen auf den Gehsteigen, für eine kurze Pause, während die Kollegen wenigstens von außen unermüdlich gegen die ständig auflodernden Brandherde ankämpfen. Die Feuerwehrleute werden schon jetzt als Helden gefeiert. Die London Fire Brigade, die als eine der besten Feuerwehr-Einheiten der Welt gilt, hat hunderte Leute im Einsatz.

    Den ganzen Tag über laufen im Fernsehen die Suchmeldungen nach vermissten Bewohnern: die zwölfjährige Jessica, 20. Stock. Mohamed, 24. Stock. Gloria und Marco, 23. Stock. Zainab, 14. Stock. Hesham, 20. Stock. Dennis, 14. Stock. May, 20. Stock. Khadija Saye, 20. Stock, eine Fotografin, deren Werk zurzeit bei der Biennale in Venedig gezeigt wird. Auch von ihrer Mutter fehlt jede Spur. So geht das gefühlt ewig weiter. Es ist qualvoll. Wer überlebt hat, schätzt sich glücklich und hat doch alles Hab und Gut verloren. Familienfotos, Erbstücke, Ausweise, Kleidung. Viele haben lediglich einen Pyjama getragen, als sie aus der Flammenhölle flohen.

    "Wie zur Hölle konnte das passieren?"

    Hunderte Londoner strömen auch am Donnerstag noch zum Unglücksort, bringen Decken, Kleider, Wasser, Essen und Babynahrung. "Die Anteilnahme und Unterstützung sind überwältigend", sagt eine Nachbarin mit Tränen in den Augen. Mehr als eine Million Pfund an Spendengeldern sind bereits gesammelt worden. Bei einer Mahnwache zünden Trauernde Kerzen an und legen Blumen nieder – im Hintergrund das schwarze Gerippe, aus dem es noch immer qualmt. Viele Überlebende, die bei Verwandten oder in Notunterkünften, in Moscheen oder Gemeindehallen übernachtet haben, sind zurückgekehrt und blicken verzweifelt auf die Ruine mit der verkohlten Fassade, wo einmal ihr Zuhause war. Und in die Trauer mischt sich Wut.

    Grenfell Tower: Das Unglückshaus

    Der Grenfell Tower ist ein 24-stöckiges Hochhaus mit 120 Wohnungen und liegt in einem der teuersten Bezirke Londons, dem Royal Borough of Kensington and Chelsea.

    Das Gebäude wurde 1974 erbaut und von 2014 bis 2016 für 8,6 Millionen Pfund renoviert.

    Dabei wurden neue Wohneinheiten geschaffen, eine neue Heizungsanlage eingebaut und die Außenwand mit einer gedämmten Vorhangfassade versehen.

    Die nicht von den Sanierungsarbeiten betroffenen Mieter blieben in dieser Zeit im Haus wohnen.

    Neben Sozialwohnungen und Büroräumen befanden sich auch ein Boxklub und ein Kindergarten in dem Gebäude.

    Es wird im Auftrag des Bezirks verwaltet.

    "Wie zur Hölle konnte das passieren?", fragt das Boulevardblatt Daily Mail stellvertretend für das ganze Land auf seiner Titelseite. Etliche Anwohner sind der festen Überzeugung, dass mangelnde Sicherheit das Desaster erst ermöglicht hat. "Es gibt dringliche Fragen zur Ursache dieser Tragödie, die dringende Antworten fordern", sagt Bürgermeister Sadiq Khan. Er verspricht eine "vollständige, unabhängige Untersuchung". Die kündigt auch Premierministerin Theresa May an. Wenn aus dem Feuer Konsequenzen zu ziehen seien, würden Maßnahmen ergriffen.

    Das Feuer hat das Hochhaus in London zerstört und forderte viele Tote.
    Das Feuer hat das Hochhaus in London zerstört und forderte viele Tote. Foto: Guilhem Baker, dpa

    Das Hochhaus, ein 1974 gebauter Sozialwohnblock, wurde zwischen 2014 und 2016 für 8,6 Millionen Pfund, knapp zehn Millionen Euro, modernisiert. Viele wollen jedoch nicht glauben, dass tatsächlich so viel Geld investiert wurde. "Die Behörden scheren sich nicht um uns Leute aus der Arbeiterklasse, es geht nur darum, dass das Haus für die reichen Nachbarn von außen schön aussieht", sagt eine Bewohnerin des Baus, der im Norden Kensingtons liegt, einem der wohlhabendsten Viertel Großbritanniens. Viele verweisen voller Ärger auf mangelnde Brandschutzmaßnahmen. Zeugen berichten, keinen gebäudeweiten, lauten Rauchalarm gehört zu haben. Notausgänge sollen gefehlt haben. Auch Sprinkleranlagen. Die sind in neueren Hochhäusern vorgeschrieben – aber es gibt keine Pflicht zur Nachrüstung. Und weil der Brandschutz-Hinweis an die Bewohner lautete, dass sie im Fall eines Feuers außerhalb der Wohnung aus Sicherheitsgründen in ihren Apartments bleiben und nasse Handtücher unter die Türen legen sollen, kamen viele Menschen in ihren eigenen vier Wänden um.

    Aus Verzweiflung springen Menschen in die Tiefe

    "Der Feueralarm ist nicht angegangen, deshalb sind so viele jetzt tot", schimpft auch Sitalih. Er habe es lebend aus dem 15. Stock geschafft, weil seine Frau das Feuer früh gerochen habe, erzählt er. Das Haus sei nicht sicher gewesen. Sitalih berichtet von offenen Leitungen und falschen Installationen. "Die Firma muss dafür bezahlen", fordert er. "Sie haben diese Menschen umgebracht." Sonja Edwards, 51, sagt, alle hätten gesehen, dass das Haus nicht sicher sei. "Aber die Firma hat es nicht interessiert. Die wollte es einfach nur von außen schön machen. Das hat jetzt vielen Menschen das Leben gekostet."

    Besondere Vorschriften für Hochhäuser

    Hochhäuser sind Gebäude mit besonderen Gefahren, daher gibt es im deutschen Baurecht auch besondere Vorschriften.

    Jedes moderne Hochhaus über 22 Meter muss einen geschützten Feuerwehraufzug und eine Steigleitung haben.

    Das sind Wasserleitungen, die nur für die Feuerwehr zur Verfügung stehen und in jedem Stockwerk Wasser zum Löschen bereitstellen.

    Die Grenze von 22 Metern ist deshalb wichtig, da man bis dahin mit Leitern kommt.

    Nach den deutschen Baubestimmungen dürfen die Fassadenmaterialien hoher Gebäude nicht brennbar sein, damit die Flammen sich nicht darüber ihren Weg nach oben bahnen.

    Nach Meinung mancher Experten gelten in Deutschland in dieser Hinsicht europaweit die schärfsten Richtlinien.

    Die häufigste Todesursache bei solchen Großbränden ist eine Vergiftung durch Rauchgas. Das liegt vor allem am Kohlenmonoxid, das bei Feuer mit geringer Luftzufuhr entsteht. Die meisten Brandopfer sterben im Schlaf. Die Menschen werden durch das geruchlose Kohlenmonoxid bewusstlos, bevor sie fliehen können. Daher, sagen Experten, sind Brandmelder in den Wohnungen so wichtig. Die soll es in diesem Fall auch gegeben haben. Aber was bringen sie, wenn die schriftliche Empfehlung der Feuerwehr eben lautet, im Apartment auf die Rettungskräfte zu warten – und die Leute sich daran halten?

    So wie die Bewohnerin des Grenfell Tower, die an ihre Freunde schrieb: "Goodbye, ich werde es nicht schaffen." Sie saß mit ihren drei Kindern in der Falle. Dunkler Rauch hüllte da bereits das Treppenhaus ein. Andere ignorierten die Vorgabe – und überlebten. Aus Verzweiflung sprangen dagegen einige Menschen in die Tiefe oder ließen ihre Kinder aus dem Fenster fallen, in der Hoffnung, sie so zu retten. In einem Fall soll ein Mann ein Baby tatsächlich zu fassen bekommen haben – obwohl es aus dem neunten oder zehnten Stock gefallen war.

    Der Grenfell Tower wird für viele Bewohner zum Gefängnis. Noch ist unklar, wie viele Tote es gibt.
    Der Grenfell Tower wird für viele Bewohner zum Gefängnis. Noch ist unklar, wie viele Tote es gibt. Foto: Matt Dunham, dpa

    Die großen Fragen sind nun: Was hat das Feuer ausgelöst? Lag es tatsächlich an der Fassadendämmung samt Plastikkern, dass es sich so rasend schnell ausbreitete, wie Experten vermuten? Und: Wer trägt die Verantwortung? Die Bewohner-Vereinigung Grenfell Action Group jedenfalls hat mehrmals eindringlich vor Brandrisiken in dem Gebäude gewarnt – und ist wiederholt auf taube Ohren gestoßen. Sie sei überzeugt, dass "erst ein katastrophaler Vorfall die Unfähigkeit und Stümperei unseres Vermieters" ans Licht bringen werde, schrieb sie vor wenigen Monaten in einem Internet-Blog unter der Überschrift "Spiel mit dem Feuer". Der Vermieter, die Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation, missachte Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften, so der Vorwurf.

    Der Katastrophenfall-Experte Jon Hall vergleicht den Brand mit einem Unfall, wie er in der "Dritten Welt" vorkomme. Er zeige ein Scheitern aller Elemente der Feuersicherheit und des Gebäudemanagements. "Ohne Worte", twittert er. Auch wenn Feuerwehrfrau Dany Cotton vor Spekulationen warnt, die Kritik prasselt von allen Seiten auf Politiker und Behörden ein. Der erste Notruf ging am Mittwochfrüh um 0.54 Uhr ein. Innerhalb von sechs Minuten waren die ersten Löschfahrzeuge vor Ort. Trotzdem konnten sie kaum etwas ausrichten. Es wurde ein Inferno. mit dpa, afp

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