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Interview: Boris Palmer: "Ich fürchte, dass wir einen harten Lockdown bekommen"

Interview

Boris Palmer: "Ich fürchte, dass wir einen harten Lockdown bekommen"

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    Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer vor dem Rathaus. Der Grünen-Politiker fokussiert seine Corona-Strategie auf den Schutz von Risikogruppen.
    Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer vor dem Rathaus. Der Grünen-Politiker fokussiert seine Corona-Strategie auf den Schutz von Risikogruppen. Foto: Tom Weller, dpa

    Tübinger Senioren ab 65 Jahren sollen nur noch von 9.30 Uhr bis 11 Uhr einkaufen und nicht den Stadtbus benutzen. Das ist für Deutschland ein ungewohnter Ansatz. Was planen Sie noch zum Schutz von Risikogruppen?

    Palmer: Ich komme gerade von der Packstation. Von dort werden jetzt 15.000 kostenlose, hochwertigen FFP2-Masken zusammen mit dem Tübinger Corona-Appell bis Ende der Woche per Brief an die Senioren verschickt. Die anderen Elemente haben wir bereits zur Wiederöffnungsphase nach der ersten Welle im April erprobt: also das Einkaufsfenster für die Risikogruppen sowie das kostengünstige Sammeltaxi-Angebot für Senioren, die nicht mit dem Stadtbus fahren. Das wurde sehr gut angenommen.

    Also eher eine Erneuerung als völlig neue Maßnahmen?

    Palmer: Im Sommer, als die Zahlen stark zurückgegangen sind, hat sich daran keiner mehr so richtig erinnert. Jetzt gehen die Zahlen wieder hoch, und wir haben unseren Aufruf erneuert. Neu sind die speziellen Schutzmasken, die gab es im April noch gar nicht zu kaufen.

    Wie ist aktuell die Reaktion in Tübingen auf Ihren Appell, der ja auf Freiwilligkeit setzt?

    Palmer: Ich habe bisher aus der Stadt nur positive Reaktionen bekommen, aber viele negative von außerhalb. Da gab es Mails mit Beschimpfungen, ich wolle die Alten wegsperren und ihnen das Busfahren verbieten. Das alles ist nicht der Fall, wir setzen auf Freiwilligkeit.

    Wie wollen Sie verhindern, dass ältere Menschen zu Hause oder in Pflegeheimen vereinsamen?

    Palmer: Für diejenigen, die Angehörige in Pflegeheimen besuchen wollen, gibt es Schnelltests. Das haben wir vor zwei Wochen eingeführt, und das funktioniert sehr gut. Zudem organisieren wir auf eigene Kosten regelmäßig zuverlässige PCR-Tests für das Pflegepersonal als erste Stadt in Deutschland. Das Ergebnis macht mich hoffnungsvoll: Wir hatten in Tübingen keinen einzigen Ausbruch in unseren Pflegeheimen. Im Landkreis Tübingen, in dem das nicht geschieht, gab es sieben Ausbrüche.

    Eine ältere Frau steigt in einen Linienbus. Tübingens Oberbürgermeister Palmer  rät Senioren in der Pandemie die Stadtbusse zu meiden.
    Eine ältere Frau steigt in einen Linienbus. Tübingens Oberbürgermeister Palmer rät Senioren in der Pandemie die Stadtbusse zu meiden. Foto: Christoph Schmidt, dpa

    Ihr Konzept wird in den Medien „Schwedischer Weg“ genannt. Doch dort ist die Bilanz zwiespältig.

    Palmer: Im Hinblick auf Freiwilligkeit und den Schutz von Risikogruppen ist es „schwedisch“. Aber natürlich setzen wir alle Kontaktbeschränkungsmaßnahmen des Landes um. Wir machen mit dem Schutz von Risikogruppen also etwas Zusätzliches. Wir schaffen ja die vorhandenen Verbote nicht ab. Deshalb hat es mit Schweden am Ende wenig gemeinsam.

    Krankenhausärzte warnen vor einem fatalen Engpass bei Intensivbetten.

    Palmer: Tatsächlich ist es so, dass die Überlastung der Intensivstationen durch die unter 40-Jährigen nicht mal zu befürchten wäre, wenn man die Welle durchlaufen lassen würde. Und da wir die Intensivstationen zum Maßstab der Freiheitseingriffe machen, glaube ich, dass es klug wäre, bei denen anzusetzen, die statistisch gesehen 500 Mal häufiger Intensivbetten brauchen als die Jungen. Dieses Virus ist extrem altenfeindlich – wer über 80 ist, hat ein über 500 Mal höheres Todesrisiko als unter 40-Jährige. Bei über 65-Jährigen liegt es noch über 100 Mal höher. Also wäre es fahrlässig, die Älteren nicht besonders zu schützen.

    Sie lehnen den Teil-Lockdown ab. Warum?

    Palmer: Die Begründung der Maßnahmen lautet ja: Wir wissen nicht, wo die Infektionen stattfinden. Deswegen schließen wir jetzt mehr oder weniger die Bereiche, die am ehesten verzichtbar sind. Doch im Theater oder in Speisegaststätten sind kaum Infektionen nachweisbar. Man schießt mit den Verboten ins Ungewisse. Das ist für Betroffene, die tolle Infektionsschutzkonzepte umgesetzt haben, sehr bitter. Da wird es schwierig, die Beschränkungen einzusehen.

    Sie glauben also nicht an einen Erfolg?

    Palmer: Ich befürchte, dass der Effekt zu gering ist und wir die Maßnahmen Ende November verlängern müssen oder einen harten Lockdown bekommen.

    Blockieren Datenschutz-Bedenken eine effektive Kontaktverfolgung?

    Palmer: Ja. Taiwan und Südkorea schicken die Leute mit moderner Datenverarbeitung so schnell in Quarantäne, dass sie das Virus nicht weitergeben. In beiden Ländern ist es so gelungen, die Wellen zu brechen. So sollte es bei uns auch laufen. Leider ist der Datenschutz eine wesentliche Ursache, dass wir jetzt wieder in den Lockdown rutschen. Es geht um Leben oder Tod und nicht darum, ob der Staat weiß, wer infiziert ist – wobei es uns allen helfen würde, wenn er das wüsste.

    Was ist Ihr Ziel für Tübingen?

    Palmer: Eine bessere Kontaktverfolgung kann ich im Alleingang nicht erreichen. Eine modernere App wäre Aufgabe der Bundespolitik. Die Gesamtzahl der Infektionen werde ich in Tübingen wahrscheinlich auch nicht entscheidend drücken können. Das Ziel ist, dass wir bis Ende November bei Menschen über 65 eine geringere Inzidenz haben. Dann wären unsere Intensivstationen entlastet. Das ist der maßgebende Faktor. Ich finde, dass der bessere Schutz der Risikogruppen eine Pflicht ist, wenn wir Schulen und Kitas offen halten und damit in Kauf nehmen, dass das Virus unter den Jüngeren weiter zirkuliert.

    Zur Person: Boris Palmer, 48, war von 2001 bis 2007 Mitglied des Landtags in Baden-Württemberg. Seit 2007 ist er Oberbürgermeister der Stadt Tübingen. Der Grünen-Politiker geriet immer wieder mit seiner eigenen Partei in Konflikt.

    Lesen Sie auch: Wie der Grüne Boris Palmer immer wieder seine Partei provoziert

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