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Großbritannien: Boris Johnson in der Corona-Krise: Der kranke Mann Europas

Großbritannien

Boris Johnson in der Corona-Krise: Der kranke Mann Europas

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    Gespenstisch ist die Stimmung mitten in London. Und so geht es auch in der Politik zu: Die Opposition nimmt Premier Johnson mehr und mehr unter Beschuss.
    Gespenstisch ist die Stimmung mitten in London. Und so geht es auch in der Politik zu: Die Opposition nimmt Premier Johnson mehr und mehr unter Beschuss. Foto: Dominic Lipinski, dpa

    Am Tag, als Großbritannien zum „kranken Mann Europas“ wurde, hätte man erwartet, dass es der Aufschrei und die Bestürzung auf alle Titelseiten des Landes schaffen. Doch weit gefehlt. Gerade hatte das Königreich bei den bestätigten Corona-Todesfällen Italien überholt und ist nun mit mehr als 30.000 Menschen, die nach einer Infektion mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 starben, das in Europa am schlimmsten von der Pandemie betroffene Land.

    Die tatsächliche Zahl dürfte sogar weitaus höher liegen. So zeigen Daten der nationalen Statistikbehörde ONS, dass seit Mitte März über 42000 Menschen mehr gestorben sind als in normalen Jahren. Doch die konservative Presse entschied, an diesem Tag lieber die Affäre von „Professor Lockdown“, Neil Ferguson, prominent zu spielen.

    Die Kritik am Krisenmanagement in Großbritannien wird lauter

    Der Epidemiologe am Londoner Imperial College gehörte zum Beraterteam der Regierung, das strenge Maßnahmen empfahl. Nur hielt sich Ferguson persönlich nicht immer an die Kontaktsperre, sondern traf sich wiederholt mit seiner Geliebten. Er musste zurücktreten. Handelte es sich bei der Enthüllung ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt um ein Manöver der Tory-freundlichen Medien, um von dem traurigen Rekord abzulenken, wie einige Beobachter mutmaßten?

    Auch wenn die Umfragewerte von Premierminister Boris Johnson gut sind und eine deutliche Mehrheit der Briten das Vorgehen der Regierung laut Meinungsforschungsinstitut Opinium noch immer befürwortet, nimmt die Kritik am Krisenmanagement zu. „Wie um alles in der Welt kam es dazu?“, fragte der neue Oppositionschef der Labour-Partei, Keir Starmer, Johnson beim ersten Wortgefecht im Parlament angesichts des traurigen Pandemie-Spitzenplatzes.

    Johnson und seine Minister zweifeln an Statistiken anderer Länder

    Während die Regierung im März, als Großbritannien bei den offiziellen Infektionszahlen noch einige Wochen hinter anderen europäischen Staaten zurücklag, stolz auf die internationalen Vergleiche zeigte, will sie plötzlich von diesen nichts mehr wissen. Das Datenmaterial gebe es noch nicht her, Schlussfolgerungen zu ziehen, so Johnson. Er und seine Minister verweisen lieber auf die Unterschiede bei den Methoden bezüglich der Erhebung, der Bevölkerungszahl oder Altersstruktur – und zweifeln an der Qualität der Statistiken in anderen Ländern, obwohl Experten auf der Insel unaufhörlich kritisieren, dass auch im Königreich über viele Wochen nur die Todesfälle aus den Krankenhäusern in die offizielle Statistik eingingen. Verstorbene aus Alten- und Pflegeheimen wurden aufgrund des eklatanten Mangels an Tests weder überprüft noch mitgezählt.

    Bis heute steigt die Todesrate in diesen Einrichtungen. Johnson spricht dagegen von „unserem offensichtlichen Erfolg“, und in der täglichen Pressekonferenz in der Downing Street werden mit immer gleichen Slogans die positiven Trends beschworen. Die Missstände aber bleiben – wie die unzureichenden Testkapazitäten oder der Mangel an Schutzausrüstung im nationalen Gesundheitsdienst NHS, der durch die jahrelange Sparpolitik ausgezehrt und schlecht auf die Pandemie vorbereitet war.

    Labour-Oppositionschef Starmer: Regierung hat „ernsthafte Fehler“ begangen

    So schafft es das Land nicht einmal, die von der Regierung zu PR-Zwecken versprochene Marke von 100.000 täglich durchgeführten Tests zu erreichen. Warum haben im Königreich so viel mehr Menschen ihr Leben verloren, obwohl das Gesundheitssystem anders als in Italien nicht überwältigt wurde und man vergleichsweise mehr Zeit zur Vorbereitung hatte? Wer trägt Schuld an der Krise? Um diese Fragen kreist die Debatte. Die Regierung habe „ernsthafte Fehler“ begangen, urteilt Keir Starmer. „Sie war langsam bei der Verhängung des Lockdown, langsam beim Testen, langsam bei der Versorgung mit persönlicher Schutzausrüstung“, feuerte der Oppositionsführer dem Premier, der selbst an Covid-19 erkrankt war, entgegen – mit Blick auf das anfängliche Zögern und den dann folgenden Schlingerkurs.

    Und so scheint es weiterzugehen: Trotz der alarmierenden Zahlen begann Johnson am Donnerstag, mit seinem Kabinett über eine schrittweise Lockerung der Beschränkungen zu beraten, laut denen die Menschen ihre Wohnungen derzeit kaum verlassen dürfen. Es wird darüber nachgedacht, den Briten zumindest die Fahrt aufs Land für Spaziergänge und Picknicks zu erlauben und generell Sport im Freien nicht nur einmal, sondern mehrmals am Tag zu gestatten.

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