Herr Professor Watzl, zwischen Politikern und Ärztefunktionären herrscht Streit über den Sinn von sogenannten Booster-Impfungen. Macht es Sinn, alle Geimpften, nicht nur Risikogruppen nach sechs Monaten erneut gegen Corona zu impfen?
Carsten Watzl: Aus immunologischer Sicht macht eine dritte Impfung absolut Sinn, weil das Immunsystem jedes Mal eine bessere Immunantwort geben kann, wenn es wiederholt mit einem Erreger oder dem Impfstoff konfrontiert wird. Das heißt, das Immunsystem ist nach der dritten Impfung besser gerüstet als nach der zweiten. Die Immunität, die man nach der dritten Corona-Impfung erhält, ist nicht nur stärker, sondern auch passender und wahrscheinlich auch länger anhaltend. Deshalb greift man bei Impfungen gegen viele andere Erreger und gerade auch bei Kindern zum Schema, Impfungen in bestimmten Zeitabständen zu wiederholen.
Das heißt, es macht auch für gesunde Menschen unter siebzig Sinn, sich eine Auffrischungsimpfung zu holen?
Watzl: Auffrischung ist bei den aktuellen Corona-Impfungen kein wirklich guter Begriff. Das klingt, als wenn etwas verloren gegangen wäre, was man auffrischen müsste, um wieder genauso gut dazustehen wie nach der zweiten Impfung. Darum geht es aber nicht. Zwar lässt der Impfschutz mit der Zeit nach, aber man steht nach der dritten Impfung besser da als nach der zweiten. Wir sehen aus Studiendaten, dass das Immunsystem einen Monat nach der dritten Impfung dreimal mehr oder sogar noch mehr Antikörper gegen das Coronavirus besitzt als einen Monat nach der zweiten Impfung. Dementsprechend sind die Menschen besser geschützt. Die erneute Impfung ist tatsächlich ein Booster, ein Verstärker. Aber der Schutz ist nach heutigen Erkenntnissen nicht von absoluter Dauer und hält nicht ein Leben lang.
„Israel hat sich tatsächlich mit Booster rausgeimpft“
Könnte man mit den Booster-Impfungen die vierte Corona-Welle brechen?
Watzl: Die Daten aus Israel zeigen, dass die Menschen nach der dritten Impfung einen sehr guten Schutz vor der Infektion haben und damit natürlich einen sehr guten Schutz vor schweren Erkrankungen. Die Daten aus Israel zeigen auch, dass die Verbreitung des Coronavirus durch die Booster-Impfungen deutlich eingeschränkt wird. In Israel hat man im Grunde das gleiche Problem wie in Deutschland: Die Impfkampagne ist bei einer Impfquote irgendwo bei 70 Prozent stecken geblieben. Durch den großen Teil der ungeimpften Bevölkerung, zusammen mit dem nachlassenden Impfschutz, schlitterte Israel vor zwei Monaten in eine große Infektionswelle und hat sich mit der Booster-Kampagne da tatsächlich wieder rausgeimpft.
Warum hat das funktioniert?
Watzl: Natürlich wäre es besser gewesen, man hätte die anderen nicht-geimpften 30 Prozent impfen können. Mit dem Booster verstärkt man aber den Impfschutz der geimpften Bevölkerung. Die Menschen bekommen sozusagen eine Art Superschutz und können das Coronavirus kaum noch weitergeben. Wenn das Virus auf so jemanden trifft, dann ist für den Erreger Endstation und die Verbreitung wird unterbunden. Die Booster-Impfung schützt nicht nur die Geimpften, sondern auch die Gemeinschaft.
Experte: Jüngere sind auch ohne Booster im Winter gut selbst geschützt
Besteht doch die Chance auf eine Herdenimmunität?
Watzl: Eine Herdenimmunität wird nur sehr, sehr schwer zu erreichen sein, vor allem kaum auf Dauer. Wir sollten der Ständigen Impfkommission folgen, am dringendsten jetzt den immungeschwächten Teil der Bevölkerung, zum Beispiel Transplantations- oder Krebspatienten mit dem Booster zu impfen, damit sie überhaupt einen richtigen Immunschutz erhalten. Viele davon sind zwar zweimal geimpft, haben aber dennoch kaum oder gar keine Antikörper. Dann haben wir auch die große Gruppe der über 70-Jährigen, bei denen die bisherige Impfung weniger Antikörper produziert hat als bei Jüngeren. Das gilt im Prinzip auch bei über 60-Jährigen. Und wir haben mehrere Millionen Menschen, die noch gar keine Impfung haben. Natürlich wäre es viel effektiver, die Ungeimpften zu überzeugen. Dann müssten wir nicht über Booster-Impfungen reden, um diejenigen zu schützen, die sich gar nicht impfen lassen wollen. Die Jüngeren sind durch die bisherigen Impfungen gut für den Winter geschützt und bräuchten jetzt noch keine Booster-Impfung. Es wäre sinnvoller, erst einmal die Menschen in den ärmeren Ländern zu impfen, als dass sich die reichen Länder dritte Impfungen genehmigen, nur weil sich dort ein kleiner Teil nicht impfen lassen will.
Gibt es nicht auch Impfdurchbrüche bei Jüngeren?
Watzl: Es gibt keine Daten, die Besorgnis auslösen. Die Zahlen vom Robert-Koch-Institut zeigen jede Woche, dass die Impfungen gut vor schweren Erkrankungen schützen. Eine dritte Impfung würde Jüngere bei Infektionen vor Symptomen, leichten Erkrankungen und vor allem davor schützen, dass sie andere anstecken. Deshalb sind Booster-Impfungen vor allem für bestimmte Berufsgruppen sinnvoll, um Ansteckungsrisiken für Dritte zu senken. Am wichtigsten sind die Booster-Impfungen in den Pflegeheimen, vor allem für die Alten. Und die Hausärzte sind jetzt gefordert, auch die 75-Jährigen nicht zu vergessen, die alleine zu Hause wohnen. Und für die zwei Millionen Menschen über sechzig, die noch gar nicht geimpft sind, ist es angesichts des Ansteckungsrisikos bei den hohen Infektionszahlen höchste Zeit, sich jetzt überhaupt impfen zu lassen.
Immunologe empfiehlt Booster-Impfung bei Johnson &Johnson
Wie ist das Nebenwirkungsrisiko bei den Booster-Impfungen?
Watzl: Nach den Erhebungen des Paul-Ehrlich-Instituts war es nach einer Million Dritt-Impfungen die Anzahl gemeldeten Nebenwirkungen geringer als bei den ersten beiden. Die meisten Nebenwirkungen waren - neben Schmerzen an der Einstichstelle - Grippe ähnliche Symptome ein, zwei Tage nach der Impfung. Das liegt daran, dass eine Impfung immer eine Antwort des Immunsystems auslöst. Auch Kreutz-Impfungen verschiedener Impfstoffe werden gut vertragen. Gerade bei der Einfachimpfung von Johnson & Johnson wird eine Booster-Impfung empfohlen, weil eine einzelne Impfung nie so gut wirkt wie eine doppelte Impfung. Die Antikörper zum Schutz vor der reinen Infektion gehen schneller zurück und liegen deutlich unterhalb von Menschen, die zweimal geimpft worden sind. Der Schutz vor schwerer Erkrankung ist bei Johnson & Johnson zwar hoch, aber nicht so gut wie bei den anderen Impfstoffen.
Tut man genug, um die noch Ungeimpften zu erreichen und zu überzeugen?
Watzl: Wir haben es mit verschiedenen Gruppen zu tun. Wir sehen, dass wir einen Teil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund schlecht erreichen, weil sie der Diskussion in deutschsprachigen Medien weniger folgen. Sie tragen aber oft ein höheres Infektionsrisiko, weil sie in größeren Familien und häufig in Wohnverhältnissen leben, wo sie viel mehr Kontakte haben und zugleich weniger Abstand möglich ist. Hier ist es wichtig, die Aufklärung und Impfangebote stärker zu diesen Menschen zu bringen, wie es zum Beispiel Bremen vormacht. Und dann haben wir natürlich die Impfskeptiker in der deutschsprachigen Bevölkerung. Für einen Teil steht fest, dass sie sich nicht impfen lassen. Den anderen Teil, der noch am Zweifeln ist, kann man mit Argumenten vielleicht überzeugen. Die Pandemie geht erst vorbei, wenn die Bevölkerung eine gute Immunität hat. Immunität kann man sich durch die Impfung oder durch Ansteckung holen. Eine Infektion ist der riskantere Weg.
Immunologe: Mehr Informationen über Impf-Nebenwirkung als viele Langzeitstudien
Viele Ungeimpfte sorgen sich vor Langzeitfolgen und misstrauen der neuen mRNA-Technologie …
Watzl: Es sind neue Impfstoffe, aber die mRNA-Technologie ist natürlich nicht aus dem Nichts gekommen. Es war reines Glück, dass die Technologie so weit vorangeschritten war und es bereits Forschung über die Coronaviren SARS und MERS gegeben hat. Man wusste, an welchen Schwachstellen man Coronaviren mit einer Impfung angreifen kann und man hat mit Erfolg das sogenannte Spike-Protein ins Visier genommen. Auch an der mRNA-Technologie hat man jahrzehntelang geforscht. Man wusste, wie man technisch einen Impfstoff herstellen kann, wie er möglichst effizient eine Immunantwort auslöst und wie man mit einer Fetthülle den Impfstoff genau da hinbekommt, wo er hinsoll, nämlich zu den Immunzellen. Da gab es auch schon lange klinische Studien. Der Impfstoff zeigt dem Immunsystem einen Teil eines Erregers. Hier ist es ein Protein des Coronavirus und dagegen richtet sich die Immunreaktion. Die Nebenwirkungen werden aber immer durch diese Immunreaktion verursacht, das heißt, sie treten immer in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung auf. Und da inzwischen Milliarden Menschen geimpft sind, kennen wir inzwischen auch höchst seltene Nebenwirkungen. Durch die Masse der Impfungen in kürzester Zeit haben wir mehr Informationen, als Langzeitstudien in anderen Bereichen je ergeben können.
Wie sicher wird die Impfung für Kinder sein?
Watzl: Dazu werden wir umfassende Daten aus den USA bekommen, wo der Impfstoff für Kinder von fünf bis elf Jahren jetzt freigegeben wurde. Bisherige klinische Studien zeigen eine gute Verträglichkeit und Wirkung. Der Impfstoff für die unter Elfjährigen könnte auch bei uns noch dieses Jahr zugelassen werden. Dann haben Eltern die Möglichkeit, zu entscheiden, ob ihr Kind durch eine Infektion oder durch die Impfung immun werden soll. Man nimmt bei unter Elfjährigen nur ein Drittel des Wirkstoffes, also 10 Mikrogramm. Doch diese Menge ruft bei Kindern genauso hohe Antikörper-Spiegel hervor wie bei den jungen Erwachsenen mit der vollen Dosis. In Zukunft könnte der Impfstoff in der geringen Konzentration auch bei Jugendlichen angewendet werden. Das wäre eine Möglichkeit, dass es noch weniger Nebenwirkungen und eine bessere Verträglichkeit gibt. Damit würde sich die Risiko-Nutzen-Abwägung für die Impfungen verbessern.
Zur Person: Carsten Watzl ist Professor an der Universität Dortmund und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.